Kürzlich erzählte mir meine Mutter, dass sie mit meinem Vater einmal in Prag gewesen sei und dort in einem Hotel Ambassador am Wenzelsplatz gewohnt habe. Sie war damals noch jung, es muss in den sechziger Jahren gewesen sein. Sie hatte diese Reise zuvor nie erwähnt. Vielleicht war die Erinnerung daran verschüttet gewesen und nun durch meinen Aufenthalt in Prag wieder hervorgekommen.
Während ich darüber nachdachte und mich fragte, ob dieses Hotel noch existiert, schlenderte ich – vom Masaryk-Bahnhof kommend – den Graben entlang. Als mein Blick auf den leuchtenden Schriftzug Casino an der Fassade eines Barockgebäudes fiel, schweiften meine Gedanken ab. Es war nämlich so, dass ich auf den Besuch einer Freundin hoffte, einer Künstlerin, die seit Jahren meiner schüchternen Werbung mit freundlichem Spott begegnete, allein meine Beharrlichkeit würde sie vielleicht noch beeindrucken können. Annäherung und Zurückweisung jedoch, ja selbst die Intervalle des Schweigens dazwischen, waren längst zu einem unterhaltsamen Spiel zwischen uns und wir gute Freunde geworden (nicht mehr und nicht weniger). Jedenfalls handelte es sich bei ihr um eine Frau, die Abenteuern – bis zu einem gewissen Grade – nicht abgeneigt war. Mit ihr könnte ich mich mit Vergnügen an einen Roulettetisch wagen, zumal sie mich von dort gewiss retten würde, falls es nötig erscheinen sollte.
Ich betrat also das Palais mit der Leuchtschrift an der Fassade, erkundete den Weg zum Casino, das einen durchaus ansprechenden nostalgischen Charme zu bieten hatte, konnte auch die Frage, ob hier Roulette gespielt wurde, zu meiner Zufriedenheit klären. Nun hätte ich wieder zurück auf den Graben gehen können, doch das Palais hatte einen Innenhof. Neugierig ging ich hinein. Der Lärm der belebten Straße verebbte. Auf den ersten folgte ein zweiter Innenhof, dann ein dritter und von diesem zweigte auf der rechten Seite eine Gasse ab. Sie führte zu einem Gebäude, in dem sich der Eingang einer Passage befand. Und über diesem Eingang las ich erneut verheißungsvolle Worte: Casino und Goldfingers.
Ich mag diese Durchgänge, die den Fußgänger auf verschlungenen Wegen, mitunter unter mehreren Häusern hindurch, auf andere Straßen führen. Nie weiß man beim Betreten, wo man die Passage wieder verlassen wird. An manchen Stellen weiten sich die Gänge zu einer Halle auf oder einem inneren Hof. Treppen führen hinauf und hinunter, zu einem Restaurant, einem Kinosaal, einer Bar. Leicht kann man in diesen Gängen die Orientierung verlieren, sie scheinen eine architektonische Allegorie auf die labyrinthischen Wege darzustellen, die das Leben häufig nimmt.
Auch Leipzigs Handelshöfe mit ihren überdachten Passagen sind berühmt, als Leipziger will ich das nicht unerwähnt lassen, aber die Passagen der Wohn- und Geschäftshäuser der Prager Neustadt übertreffen sie in Weitläufigkeit, Vielfalt und Charme. Manche von ihnen entdeckt man nur durch Zufall, wie die Václavská-Passage am Karlsplatz oder die Tylova-Passage am gleichnamigen Platz.
An anderen kann man unmöglich vorüber gehen, ohne einzutreten: die Lucerna-Passage, die Světozor-Passage oder die Passage des gewaltigen Adria-Gebäudes.
Man geht in diesen Gängen in die Tiefe der Häuser hinein und gleichzeitig durch sie hindurch. Man durchquert die Häuser in der Tiefe, ist Passant im besten Wortsinne. Und als ein solcher Durch-Geher querte ich hier nun nicht nur Häuser, sondern auch Zeiten, denn aus dem Barock kommend, war ich mit wenigen Schritten in die frühe Moderne gelangt. Messing blinkte, meine Schritte hallten, kein Mensch war zu sehen. Ich ging an einem Frisiersalon vorbei, dann an leeren Schaufenstern und fürchtete bereits, statt in eine Passage in eine Sackgasse geraten zu sein, als der Gang jäh abbog. Unerwartet eröffnete sich vor mir der Ausblick auf das geschäftige Treiben des unteren Wenzelsplatzes. Zu meiner Linken aber befand sich, nur durch eine Glasfront von meinem Gang getrennt, das Foyer eines Hotels. Es war das Ambassador.