Die Zeit verfliegt, es ist schon eine Woche um. 139 (zweimal gezählt) Stufen in den vierten Stock, jeden Tag, so bleibt man fit. Mein Nachbar joggt mit seinem Kind auf dem Arm an mir vorbei nach oben, während ich ziemlich am Schnaufen bin. Gewöhnungssache, denke ich.
Oben dann: Hohe Decken, leere Räume, knarrendes Parkett, viel, viel Platz.
In der Wohnung ist es frisch, die Heizung macht seltsame Geräusche, funktioniert aber bisher, immerhin. Wenn man nachmittags zuhause ist, hört man Arien, Klaviergeklimper, Oktavenübungen, Operngesang. Das passt zum Haus, zur Aussicht und zum künstlerischen Anspruch (aber manchmal muss ich davor fliehen und mache ausgedehnte Spaziergänge durch die Stadt, bevor ich am Abend weiterarbeite).
Mit mir wohnen hier wohl einige Spinnen, von denen ich freundlicherweise bisher nur die Netze gesehen habe, und ein paar Tauben vor dem Fenster, die meistens früh am Morgen auftauchen, herzallerliebst gurren und anders als ich kein bisschen erschrecken, wenn ich das Fenster öffne und sie bei ihrer Morgentoilette störe.
Die Wohnung ist riesig, man verliert sich ein bisschen in ihr, wie man auch in der Stadt verloren gehen kann – lange Spaziergänge zwischen (anderen) Touristen, der Geruch nach Baumstriezeln und Schweinebraten, überall Schweinebraten, wenige Masken, viele Menschenmassen, das bin ich nicht mehr gewohnt in diesen Pandemie-Jahren.
Ich bekomme Besuch, gleich in der ersten Woche, und wir wandern die üblichen Wege ab: über die Karlsbrücke bis zur Burg, Goldenes Gässchen, Jüdisches Viertel, den Altstädter Ring entlang und zum Wenzelsplatz.
Alleine gehe ich dann kleinere Wege, Gassen, vermeide Gedränge, biege irgendwo ab, gehe verloren, finde ruhigere Ecken, die fast schon warme Frühlingssonne im Gesicht.
Hier gibt es so viel zu sehen, Jugendstil-Cafés warten mit Köstlichkeiten und sehr schönen Lampen, das Nationaltheater lacht mich an, und hier ein Museum und da ein Ort, an dem Kafka zu Mittag gegessen hat, zu viel Ablenkung dafür, dass ich doch hier bin, um zu schreiben. Ich bin kein auch keine romantische Café-Schreiberin, weiß nicht, wie andere Autor*innen das machen, da gibt es doch viel zu viel zu sehen und zu viel zu essen. Zum Schreiben brauche ich Ruhe und Disziplin. Ich überliste die Muse mit einem unromantischen Timer: 25 Minuten konzentriert arbeiten, fünf Minuten Pause. Es klappt zeitweise, bis mich die Sonne wieder nach draußen lockt, trotz 139 Stufen.
Wer weiß, vielleicht bin ich Ende des Monats auch so fit wie mein joggender Nachbar.
Marienkäfergeister und andere Gespenster
Prag sei voller Gespenster, schreibt der Reiseführer. Vielleicht ist das im Herbst so, jetzt strahlt jeden Tag die Frühlingssonne, fast schon warm, der Himmel ist babyblau und die Gebäude tatsächlich ein bisschen golden. Der Ausblick aus dem vierten Stock ist schon eine Reise wert, der Fluss, Jugendstilhäuser auf der anderen Seite, bis zum Hradschin kann man gucken. Alles ist hell und schön und ich kann mir keinen Geist vorstellen, dem es hier gefällt.
In der Wohnung hausen aber tatsächlich zwei Gespenster (soweit ich weiß) – ein Marienkäfer, der auf dem blauen Sofa klebt und vielleicht nur in Winterstarre ist, und ein Nachtfalter neben dem Fenster im Schlafzimmer, der ziemlich tot aussieht. Ich lasse ihn in Frieden Ruhen und siedle den Marienkäfer – nur für den Fall – auf das Fensterbrett um.
Außerdem gibt es hier die Geister der Leute vor mir – man findet Reiseführer, Gummibärchenpackungen, sogar eine Schlafanzughose in der Abstellkammer. Ich blättere durch den Blog des Literaturhauses und lese von den anderen Autor*innen, Preise hier, Stipendien dort, beeindruckend einschüchternd. Aber die Texte dann doch sehr menschlich – jemand traute sich abends nicht über den Fluss, jemand sang Karaoke, jemand schaute viel Fußball, so viele unterschiedliche Menschen und Gemüter und Erlebnisse.
Und noch mehr Geister der Vergangenheit: Bei der Ankunft erzählte mir der Leiter des Literaturhauses, dass der Enkel von Heinrich Mann hier gewesen war, ein alter Mann, der meinte, bei den Treppen überlege man es sich zweimal, ob man die Wohnung verlasse, was dem Schreiben ja sehr zuträglich sein. Seitdem denke ich darüber nach, dass ich im Bett schlafe, in dem der Enkel von Heinrich Mann geschlafen hat und fühle mich sehr elitär. Ich bin eine Enkelin von Bauern und Maurern.
Mehr Angst als Gespenster macht mir die aktuelle Lage, die viel gruseliger ist als jedes übernatürliche Wesen. Der Krieg ist so neu und so nah, und rückt gefühlt jeden Tag ein bisschen näher. Ich faste Nachrichten, zwinge mich, mich nur einmal am Tag zu informieren, weil ich sonst einfach nur nach Hause fahren, und mir die gewohnte, heimelige Decke über den Kopf ziehen möchte. Prag ist voller ukrainischer Flaggen und Peace-Zeichen, das ist schön.
Ein Stromausfall weckt dann doch wieder den Sinn fürs Übernatürliche. Ich wandere mit Handytaschenlampe durch die finstere Wohnung, auf der Suche nach der Ursache und dem Sicherungskasten. Aus dem ungenutzten Zimmer, in dem die Heizung nicht geht, zieht ein kalter Lufthauch, und es klopft ein paar Mal, als würde jemand an der Tür hämmern. Vielleicht hat der Reiseführer ja doch recht.