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Der Autor

Martina Lisa (geb. in Prag/Tschechoslowakei) ist freischaffende Autorin, Übersetzerin und Redakteurin. Lebt in Leipzig, wo sie liest, schreibt, tschechische und slowakische Literatur ins Deutsche übersetzt und Bücher herausgibt.

Sie schreibt poetische Texte zwischen Literatur und Publizistik, experimentiert mit biografischen Collagen zwischen Fakten und Fiktion, bringt eigene wie fremde Texte in unterschiedlichen Formaten auf die Bühne und kuratiert und organisiert Kulturveranstaltungen. Zuletzt erschien ihr Band Tage zählen. Skizzenbuch #14 (2022) sowie Wo wir jetzt sind, ein Hörstück.

Sie ist Mitglied im Verlagskollektiv hochroth, wo sie die Reihe OstroVers mit zeitgenössischer tschechischer und slowakischer Lyrik betreut, im Schreibkollektiv ceoK und im VdÜ (Verband deutschsprachiger Übersetzer:innen) sowie freie Redakteurin beim Leipziger Stadtmagazin Kreuzer. 

Während ihrer Residenz im Prager Literaturhaus möchte sie an einem Text-Collage-Projekt arbeiten, inspiriert durch die tschechische Underground-Autorin Jana Černá, deren Texte sie ins Deutsche übersetzt (zuletzt: Jana Černá = Honza Krejcarová: Totale Sehnsucht, 2022).

 

Im Internet: www.martinalisa.dewww.martinalisa.de
Bildnachweis:
© Prager Literaturhaus
| | Feuilleton | 3.7.2023

Abreisen

Vielleicht kommt schon heute das Gewitter, so genau wissen wir es nicht. Noch staut sich die Luft in den Lungen. Ich sitze am Fluss, dort sah ich gestern eine verweste Ente, sie sah fast flauschig aus. Ich trinke einen der letzten Morgenkaffees an der Moldau, sitze an der Mauer, beobachte Nutrias und die ersten Tretboote. Schwan fahren würde ich wohl nicht mehr. Die Melancholie der Abreise verlangt nach der letzten Zigarette, die ich nicht habe, also schreibe ich alles auf: den Mann, der auf der Parkbank schläft, seelenruhig in der Vormittagshitze, einen anderen, der mit seinem Pudel und Rotwein im Glas Gassi geht, Kinder am Karussell, all die hupenden Autos, die über Zebrastreifen rasen, Taubenkot auf dem Fußboden in der Küche – die Balkontür stand die ganze Nacht offen, das Buch, das ich vergessen habe in der Buchhandlung abzuholen, die Igelfamilie von gestern Nacht, oben auf Letná, all die Tourist:innen mit dunklen Sonnenbrillen, mit Bierdosen, lautem Gebrüll und teuren vorgedrehten CBD-Joints aus den Cannabis Shops, die es hier überall gibt und wo sie echtes Gras wittern, wonach die ganze Stadt tatsächlich riecht, den Akkordeonspieler von Kampa, den Vereinsladen dort, wo man selbst die Preise bestimmt, die Weinschorle, die man in Zahlen bestellt, zwei zu drei, die Klavierlehrerin von unten, die sich jeden Tag von ihren Schüler:innen dieselben Etüden anhören muss, die verlorene blaue Feder vom Eichelhäher auf dem jüdischen Friedhof, die reifen Erdbeeren dort, die ich heimlich pflücke, den leuchtenden kleinen Eiffelturm auf dem Hügel gegenüber, das blaue Bild auf meinem Tisch, die letzten Blumen vom Markt, immer noch gut aussehend in der Vase, fast als wären sie nicht echt, den Stadtplan, der nachts von der Wand fiel und nicht mehr kleben will, all die geschriebenen und wieder verworfenen Zeilen, gelöschten Seiten und nicht getroffenen Entscheidungen, die nächtlichen Spaziergänge und Friedhofsbesuche, Gespräche in Parks, Bars und am Telefon, die hastig verschickten, viel zu teuren Postkarten, gekauft in einem der Spätshops in der Nähe und all die nicht besuchten Orte hier. Vielleicht kommt schon heute das Gewitter, es könnte sein. Aber so genau weiß es keiner.

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