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Der Autor

Dirk Hülstrunk (geb. 1964 in Frankfurt) ist als Autor und Soundpoet international gefragt.

Arbeit an der Schnittstelle von Sprache, Klang und Performance. Markenzeichen ist ein rhythmusstarker, minimalistischer Stil. Einflüsse von Dada und Kurt Schwitters über Gertrude Stein und Konkreter Poesie bis zu aktueller Spoken Word Poesie.

Hülstrunk gehört auch zu den Pionieren der Poetry Slam Bewegung in Deutschland und organisiert den renommierten Poetry Slam Frankfurt seit 1998 an der FH Frankfurt. Darüber hinaus veranstaltet er Lesungen, Performances, Festivals u.a. in Clubs, Theatern, Museen, moderiert die Kultursendung "Knallfabet" beim Frankfurter Stadtradio "Radio X", gibt Workshops für Jugendliche und ist freier Dozent an der FH Frankfurt.

Aktuell arbeitet er an dem Multimediaprojekt "Antikörper" mit dem Mainzer Künstler "Brandstifter" und dem Soundpoetry Projekt "JIRK" mit dem finnischen Stimm- und Performancekünstler Juha Valkeapää sowie seinem Soloprogramm "Analfabet" für Stimme und Loops. 2006 hat er den Kulturverein "Kulturnetz Frankfurt e.V." mitgegründet.

Im Internet: www.dirkhuelstrunk.dewww.dirkhuelstrunk.de
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Sehen – Betreten auf eigene Gefahr

Kaum angekommen, bin ich schon wieder weg. So fühlt es sich an. Ein Monat ist nicht viel, um sich in einer Großstadt mit einer anderen Kultur, einer anderen Sprache einzuleben. Es ist das übliche Problem mit Künstler-Stipendien. Ich soll in eine andere Kultur eintauchen und gleichzeitig soll ich einfach weiter arbeiten, schreiben, Ideen entwickeln. Dabei müsste ich erst einmal hinsehen, wo ich gelandet bin.
Ich schaue, indem ich laufe. Am liebsten laufe ich einfach los und lasse mich treiben. Daraus werden sehr lange Spaziergänge, in denen ich staunend durch diese Stadt flaniere, die mir wie eine 1930er-Jahre Filmkulisse vorkommt. Hare Krishnas, Japanische Touristen, Hamburger-Bratereien, Sushi-Restaurants und rappende Straßenkünstler können diesen Eindruck nicht zerstören. Nach den Spaziergängen bin ich müde. Lande im Theatercafé NONA oder im Hipster Café Neustadt. Die Alt-Prager Cafés mit ihren hohen Stuckdecken und Kronleuchtern schüchtern mich ein.
Danach schleppe ich mich zurück in die Wohnung, keuche die fünf Stockwerke hoch. Müde und hungrig. Ich koche. Danach könnte ich ausgehen, in die vielen tollen Programmkinos, die Clubs oder zu Lesungen und Theater oder einfach das Prager Bier genießen. Nur, wann soll ich eigentlich schreiben, wenn ich den halben Tag spazieren gehe und die andere Hälfte ausgehe. Ich gehöre nicht zu den Künstlern mit eisenharten Arbeitsroutinen. Ich muss meine Routinen an jedem Ort neu aufbauen. Das dauert. Am Ende habe ich einige wenige neue Gedichte geschrieben. Zu meinen bisherigen Arbeiten passen sie nicht. Ich bin unzufrieden mit meinem Output. Nur unsystematisch und unregelmäßig habe ich an den Projekten gearbeitet, die auf meinem Arbeitsplan standen. Immerhin waren dank des Literaturhauses und des Engagements meines Freundes Jaromir Typlt ein paar Lesungen möglich und wir haben gemeinsam an historischen Dada-Texten gearbeitet.
Unsere gemeinsame Version des Lautgedichtes „Totenklage“ von Hugo Ball erscheint mir als einer der Höhepunkte meines Aufenthaltes. Ein Text der gut zum November passt. Die islamistischen Anschläge in Paris sorgen für bedrückende Aktualität. Aus der Klangspielerei wird ernst. Wenn ich aus dem Fenster schaue, blicke ich auf den kleinen Eiffelturm von Prag auf dem Petrin Hügel. Nachts leuchtet er in den Farben der Tricolore. Hilflose Geste der Solidarität.

Nach einem Monat Prag bin ich wieder in meiner Heimatstadt Frankfurt. Das neue Pasta-Restaurant hat schon wieder aufgegeben, das Haus gegenüber wurde komplett abgerissen und durch einen Kran ersetzt, auch der große Supermarkt am Bahnhof ist bereits plattgemacht für einen großen neuen Wohn- und Geschäftskomplex. Nur die Eingangstür steht noch. Bei den Bauarbeiten wurde ein Massengrab von 1813 mit den Skeletten von 200 napoleonischen Soldaten gefunden. Flüchtlinge sind in die ehemalige Uni-Mensa eingezogen, ein indischer Koch und ein nepalesischer Mathematikstudent haben die Ur-Deutsche Kneipe an der Ecke übernommen - zum Missfallen des Stammtisches. Schnitzel und Bier schmecken immerhin wie vorher. Ein neuer Kiosk hat aufgemacht. Neue Stadtviertel sind am Entstehen. Die Rekonstruktion der alten Innenstadt nimmt Gestalt an. Überall wird etwas abgerissen und wieder aufgebaut. Normalität in meiner Stadt. Ich sehe es kaum noch.

Eigenartig, wenn ich jetzt zurück denke, finde ich weniger die üblichen Bilder der unzerstörten Stadt, nicht Romantik, Jugendstil und Art Deco, nicht die Türmchen und Ranken, die Kurven und Gassen, die Skulpturen und Mosaike, nicht die verwirrenden Muster des Kopfsteinpflasters, nicht Buchhandlungen und Antiquariate, Plattenläden, Kinos & Bäckereien, Minimärkte mit Absinth-Spezialitäten und dekadente Kaffeehauskathedralen.

Ich denke zuerst an die unzähligen Ermahnungen, Verbote und Gebote in Form von Piktogrammen. An Flughafen und Bahnhof sind sie wie überall nüchtern, informativ und europäisch genormt. Doch in der Stadt buchstabieren sie mir gleichzeitig künstlerisch kreativer und moralisch strenger die Prager Anstandsregeln.
Einzeln oder in Gruppen richten sie sich offenbar gezielt an ausländische Besucher, inländische Analphabeten und Haustiere. Auf Ihnen sind Segways, Spritzen, Alkoholflaschen, verschiedene Hunderassen, Männer und Frauen, Skifahrer, Rollschuhfahrer, Skateboardfahrer, Fahrradfahrer, Fußgänger, Pferde und einige unidentifizierbare Objekte zu sehen.
Die Schilder sind Anweisung, Ermahnung, Verbot oder Erlaubnis und zugleich kleine Kunstwerke extrem verknappter Aussage. Ihre Ästhetik soll universell und doch speziell sein. Wie weit kann die Abstraktion, die künstlerische Freiheit gehen? Wie viel Humor ist möglich? Warum läuft ein Mann einem Ausrufezeichen hinterher? Oder erstarrt er vor Schreck oder Ehrfurcht inmitten der Bewegung? Warum stehen die Frauen herum? Auf was warten sie? Wieso Sprühdosen und Bäume? Wieso Mensch, Vogel, Schall?

Die Piktogramme haben sich schließlich zu meinem letzten Prag-Gedicht verdichtet.

Betreten auf eigene Gefahr!

Putzen Sie sich gefälligst die Schuhe ab,
bevor Sie unseren Rasen betreten!
Unseren heiligen Rasen, unter dem die Opfer
jahrhundertelanger Unterdrückung liegen.
Rasen voller Knochen und Blut!
Rasen voller Sperma und Bier!
Und fassen Sie sich an die Nase,
bevor Sie „einen Kaffee, bitte“ sagen.
Was wissen Sie denn schon
von Leid und Verrat,
von der Poesie der Wohnzimmer,
von Musik und Zerstörung,
von der Vergiftung durch Sprache,
von der Vertreibung der naheliegenden Gedanken.
Hier behalten Sie ihren Duft besser für sich.
Bestellen Sie sich ihr Bier – garantiert
mit Moldauwasser gebraut - und singen Sie leise,
summen Sie besser.
Und versuchen Sie niemals ein Ausrufezeichen
wieder einzufangen!

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