In der Wohnung über mir übt Tag für Tag eine Opernsängerin und mittlerweile habe ich mich so sehr an ihren Gesang gewöhnt, dass er mir fehlt, wenn sie zum Beispiel am Wochenende eine Probenpause einlegt. Ihre Arbeit motiviert meine eigene, wenn sie mit ihren Stimmübungen beginnt, setze auch ich mich an den Schreibtisch. So gehen wir beide täglich, 9-to-5, unserem künstlerischen Handwerk nach, als wären Singen und Schreiben ganz normale Berufe. Was sie natürlich einerseits auch sind und andererseits überhaupt nicht. Gerne würde ich wissen, was die Opernsängerin wohl tut, wenn sie nicht gerade übt, wobei mich das selbstverständlich überhaupt nichts angeht. Aber das ist ja das Reizvolle an temporären Aufenthalten in bisher unbekannten Umgebungen: die kleinen Einblicke in fremde Leben.
In den meisten Städten, die nur 10% schöner sind als Paderborn*, denke ich irgendwann: Warum nicht alles hinter mir lassen und hier leben? Meistens fallen mir dann schnell einige Gründe ein, aus denen ich es doch nicht tue, insgeheim aber lebt der Gedanke weiter, dass auch ein anderes Leben an einem anderen Ort möglich wäre. Natürlich hatte ich auch in Prag schon diesen Gedanken, wobei es hier bestimmt mindestens 30% schöner ist als in Paderborn. Dabei steht bei diesem Gedanken gar nicht im Vordergrund, das aufzugeben, was man hat, sondern eher die Lust darauf, etwas Neues kennenzulernen und auch sich selbst von einer anderen Seite zu begegnen. Denn natürlich ist mit jeder Stadt eine andere Lebensweise verbunden, ein anderes Tempo, eine andere Sicht auf die Dinge. Und so werfe ich mir den Tarnmantel der Arbeit über und versuche einzutauchen in diesen fremden Kontext, der mir immer näher wird. Hier und da ist es mir auch schon gelungen, mich nahezu unerkannt in die Umgebung einzufügen, etwa wenn ich nach dem Weg gefragt werde, offenbar in der Annahme, ich wäre von hier. Das kleine Glück des Hochstaplers, auf der Suche nach neuen Wegen nach dem richtigen gefragt zu werden. In meinem Versteck der Anonymität gehe ich also mögliche Szenarien durch, frage ich mich, wie es eventuell hätte sein können oder wie es gewesen wäre oder wie es in Zukunft sein würde. Spekulativer Alltag, das Antesten eines Lebens.
Auch mein Schreiben wird natürlich von diesen Perspektivwechseln angeregt, auf einmal fließen die Gedanken und Worte anders als bisher, neue Themen und Ideen ploppen auf, was im Grunde merkwürdig ist, schließlich sitze ich ja auch hier, in Prag, nur am Schreibtisch, so wie ich es auch in Düsseldorf tue. Aber das eigene Schreiben verhält sich eben immer zu der Umgebung, in der es entsteht, weshalb es eben doch einen Unterschied macht, wo der Schreibtisch steht. Aber jetzt höre ich über mir schon wieder die Sängerin üben, ich sollte also besser weitermachen.
*Wer es nicht kennt: Paderborn ist eine kleine Großstadt aus Ostwestfalen, dem Landstrich, in dem ich aufgewachsen bin, die zu gleichen Teilen hübsch wie trist ist.