Prag - Die tschechische Hauptstadt ist berühmt für ihre prachtvollen barocken und gotischen Bauwerke. Und auch die neuere Architektur braucht den Vergleich mit anderen Städten nicht zu scheuen, denkt man beispielsweise an die Vielzahl funktionalistischer Villen und Wohnhäuser oder Frank Gehrys "Ginger und Fred".
Weniger bekannt ist allerdings, dass sich inmitten der historischen Altstadt einige der weltweit einzigartigen Beispiele der kubistischen Architektur befinden.
Kubismus und Architektur – das klingt zunächst befremdlich, begegnet einem der Kubismus doch vor allem in der Malerei und eventuell noch in der Plastik. Und tatsächlich ist die Übertragung auf die Architektur, wie sie in Tschechien und dort vor allem in Prag geschah, nicht unproblematisch.
1908 begründen Pablo Picasso und Georges Braque in Frankreich den Kubismus in der Malerei. In einem radikalen Bruch mit der bis dahin geltenden Auffassung von Malerei gewann auf einmal die Malfläche an sich äußerste Autonomie. Ziel des Malers sollte es nun nicht mehr sein, die Welt auch nur annähernd illusionistisch abzubilden, vielmehr entfaltet sich auf der Leinwand ein eigenständiger Bildraum. Volumen wird zu Fläche, Gegenstände werden aus mehreren Perspektiven sichtbar, ohne eine in der Realität erfahrbare Räumlichkeit aufzuweisen. Flächen überlagern und durchdringen sich, Licht und Schatten sind scheinbar willkürlich auf der Leinwand verteilt. Die Referenz bildet nicht mehr die Wirklichkeit, sondern ausschließlich das Kunstwerk allein.
Kubismus am Bau oder die Quadratur des Quadrats
Dies funktioniert in der Fläche, in modifizierter Form auch in der Bildhauerei – doch wie bei einem Bauwerk, das per Definition, be- und umschreitbar und einem bestimmten Zweck unterworfen ist? Noch dazu soll Architektur Wirklichkeit und Raum nicht abbilden, sondern letzteren sogar explizit erschaffen.
Natürlich waren sich die Protagonisten der kubistischen Architektur – namentlich vor allem Pavel Janák, Josef Chochol, Josef Gočár und Vlatislav Hofmann - dieser Dialektik bewusst. Der Kubismus Picassos und Braques ist daher auch mehr als Inspirationsquelle denn als theoretische Grundlage dieser Architektur zu sehen.
Eine andere Quelle der Inspiration kam aus Wien. Sowohl Janák als auch Chochol, hatten dort an der Akademie der Bildenden Künste bei Otto Wagner studiert. Schon bald begannen sich die Schüler jedoch vom Lehrer zu distanzieren und forderten eine klarere, schnörkelloserere – kurz: kantigere – Architektur. Dabei sollten jedoch nach Janák keinesfalls Funktion und Zweck das Aussehen eines Bauwerks bestimmen, sondern allein die "Poesie". Kaum überraschend, dass Janák Adolf Loos’ Vortrag über "Ornament und Verbrechen", den dieser 1910 im Prager Technikum hielt, scharf kritisierte.
Der kubistische Funke aus Paris war auf die jungen Prager Architekten übergesprungen und sollte dort ein ganz eigenes Feuer entfachen. Zunächst gründete sich 1910 die Skupina výtarných umělců (Gruppe bildender Künstler), der alle vier genannten Architekten angehörten. Schon 1911 verließen allerdings Hofmann und Chochol die Skupina bereits wieder, ein Grund war, dass Janák sich vor allem auf die Fassadengestaltung konzentrierte und dem Raum und der Raumgestaltung überhaupt keine geistige und künstlerische Qualität zugestehen wollte. Diese Position ist für einen Architekten natürlich nicht unproblematisch und sollte später auch von Janák relativiert werden.
Inspirationen aus Paris und Wien
Damit ist auch die Frage der theoretischen Grundlage der kubistischen Architektur bereits angerissen. Eine einheitliche Theorie lässt sich kaum aufstellen, jedoch gibt es einige Merkmale, die sich in verschiedenen Texten wiederfinden und hier notwendigerweise verkürzt dargestellt werden:
Zwar gab es wie bereits beschrieben, unterschiedliche Auffassungen darüber, ob neben der Fassade auch der Raum an sich kubistisch zu gestalten sei. Dennoch zeigen sich fast alle realisierten Entwürfe vor allem auf der Fassade kubistisch, die Innenräume sind, sieht man von dekorativen Details ab, eher konventionell gestaltet. Der vielleicht wichtigste Punkt ist die Forderung, dass kubistische Architektur "geistvoll" in ihrem Gehalt sein sollte. Konkret heißt dass, keine Rücksicht auf Materialbeschaffenheit und Zweckbestimmung zu nehmen, sondern sich die Materie zu unterwerfen und sie so zu formen, dass sie der künstlerischen Idee entspricht.
In der Architektur sollte dies vor allem bedeuten, die alles bestimmenden Verhältnisse von Tragen und Lasten unsichtbar zu machen. Als Vorbild diente hier die Gotik mit ihren kunstvollen Gewölbe- und Maßwerkformen, die scheinbar mühelos mit dem massiven Baumaterial spielen. Aber auch der Barock mit seinen üppigen, die Gesetze der Schwerkraft scheinbar ignorierenden Formen diente als Vorbild – kein Zufall in einer Stadt, deren Stadtbild vor allem durch Bauwerke dieser Epochen bestimmt wird.
Als ideale Verkörperung dieses "Geistigen" wurde der Kristall angesehen. Janák schreibt, "dass man geradezu behaupten kann, die Schwerkraft der Materie habe keinen Einfluss auf die Materie". Und ein Blick auf eine kubistische Fassade genügt, um die Bedeutung kristalliner Formen für diese Architektur zu erkennen. Dass diese idealisierte Vorstellung des Kristalls keine neue Erfindung war, zeigt der Blick auf kristallförmige Ornamente im Jugendstil. Ein weiteres bedeutendes Gestaltungselement sollte die Schräge sein, die möglichst der Geraden vorgezogen werden sollte.
Herausragende Beispiele im weiteren Prager Zentrum
1911-12 entstand die erste Ikone der kubistischen Architektur, Gočárs Kaufhaus "Zur schwarzen Mutter Gottes" am Ovocný trh (Obstmarkt). Interessanterweise waren die ersten Entwürfe Gočars kaum kubistisch geprägt. Erst als der Prager Magistrat bedeutende Änderungen forderte, damit sich das Haus besser in die Umgebung einpasst, kamen Details wie ein kubistisches Balkongeländer, ein kubistisches Eingangsportal und das barockisierende Mansardendach hinzu. Tatsächlich fügt sich das Gebäude auffallend gut in seine barocke Umgebung.
Auch im Inneren konnte Gočar viele seiner Ideen umsetzen. Auffällig sind hier das Treppengeländer und vor allem das Interieur des Cafes im ersten Stock. Das Schicksal dieses Kaufhauses ist symptomatisch für die Rezeptionsgeschichte der kubistischen Architektur: Das Interieur wurde nach und nach zerstört, auch das Gebäude verfiel. 1994 schließlich begann man mit der Renovierung. Heute ist sogar das Cafe mit nachgebildetem Interieur wiedereröffnet, außerdem befindet sich in dem Gebäude das Prager Museum des tschechischen Kubismus. Der Laden im Erdgeschoss mit Nachbildungen kubistischen Kunsthandwerks und Literatur zum Kubismus machen das „Haus zur schwarzen Mutter Gottes“ endgültig zu einer hervorragenden Adresse für Interessierte.
Zwischen 1912-1913 entstand einer der kubistischen Entwürfe Chochols unterhalb des Vyšehrads. Das Dreifamilienhaus (Rašínovo nábřeží 42/6-10) weist eine ausgeprägt kubistisch gestaltete Fassade auf, der Mittelteil wird von einem polygonalen Tympanon abgeschlossen, während die Seitenflügel die bereits vom "Haus zur schwarzen Mutter Gottes" bekannten Mansardendächer tragen. Die Gesamtanlage des Hauses mutet klassizistisch an.
Inzwischen ist der Bau wie alle kubistischen Häuser in der kleinen aber äußerst sehenswerten Kolonie unter Denkmalschutz. Mitte der 80er Jahre wurde allerdings noch ein Abriss zugunsten eines Brückenneubaus erwogen!
Sozusagen um die Ecke finden sich zwei weitere Entwürfe Chochols: Die "Villa Kovařovic" (1912-13) und ein in Mehrfamilienhaus (1913-14). Die Villa (Libušina 49/3) bietet vor allem auf der Gartenseite einen spektakulären Anblick. Sie ist ein Beispiel für Kubismus in seiner klarsten Form, Auch die Pfosten des Zaunes sind kubistisch gestaltet. Nicht weniger beeindruckend präsentiert sich das Mehrfamilienhaus (Neklanova 98/30). Vor allem bei Sonnenschein fasziniert das Wechselspiel von Licht und Schatten auf der Fassade. Nach oben schließt ein ausdrucksvolles Kranzgesims das Bauwerk ab. Der über alle Geschosse reichende Eckpfeiler erinnert stark an gotische Strebepfeiler. Das Gebäude scheint perfekt durchkomponiert, selbst die Türklinke der Eingangstür ist kubistisch gestaltet. In krassem Gegensatz dazu steht die völlig glatte Fasse auf der Hofseite.
Ein anderer Protagonist des Architekturkubismus ist Emil Králičeck. Einer seiner Entwürfe findet sich in der Neustadt: Das Geschäftshaus „Diamant“, erbaut 1912-13 (Spálená 82/4). Der Bau ist eine interessante Mischung zwischen (kristallinem) Jugendstil und Kubismus. Besonders der Figurenschmuck an der Fassade, die Fahnenstangen, das Portal mit dem "Diamant"-Schriftzug und die im Eingang angebrachte Lampe fallen auf.
Zwischen dem „Diamant“ und der Kirche der Heiligen Dreieinigkeit findet sich ein weiteres, vermutlich ebenfalls von Králičeck gestaltetes Detail: Die Ädikula für die barocke Statue des Heiligen Nepomuk. Auf interessante Art und Weise werden hier zwei Stilepochen zueinander in Beziehung gesetzt.
Die Zeit des tschechischen Architekturkubismus währte nur äußerst kurz. Er erlebte seine Blütezeit zwischen 1911 und 1914 und wurde dann durch den ausbrechenden I. Weltkrieg jäh beendet. Seine Nachwirkungen waren jedoch nach Ende des Krieges noch weiter zu spüren, vor allem im aufkommenden so genannten Rondokubismus.
Diese eigentümliche Entwicklung bedarf einiger Erklärung. Der tschechische Kubismus war zunächst als universale, weltweite Kunstrichtung gedacht, ohne nationale Ausrichtung - nicht weiter verwunderlich, existierte zu dieser Zeit ja auch keine tschechische Nation im staatlichen Sinne.
Dies änderte sich 1918. Mit der Gründung der ersten tschechoslowakischen Republik wurde auf einmal die Frage nach einer „nationalen Kunst“ aktuell. Eine Reaktion darauf war der Rondokubismus. Er kombiniert einige Elemente des Kubismus mit Ornamenten, die aus der tschechischen Volks- und Bauernkunst bekannt waren. Sowohl die Ornamentik als auch die Farbgebung der Fassaden sollen auf diesen volkstümlichen Charakter verweisen. So sehen manche rondokubistischen Bauwerke denn auch salopp formuliert aus wie gewaltige Bauernschränke. Seinen Namen erhielt der Rondokubismus von (halb-) runden beziehungsweise zylindrischen Ornamenten.
Das Beispiel für diese Stilrichtung ist die "Legiobank" (1921-23) Gočars (Na poříčí 1046/24). Nach ihr wird der Rondokubismus auch (und vielleicht treffender) "Legiobankstil" genannt.
Die Fassade strotz vor Ornament und, ebenfalls typisch für den Rondokubismus, ist mit reichem Figurenschmuck ausgestattet. Nach zeitweiser Umwidmung dient das Gebäude heute wieder als Bank und ist damit öffentlich zugänglich. Ein Glücksfall, denn die reiche Ausschmückung im Inneren und die prachtvolle Schalterhalle sind auf jeden Fall einen Besuch wert. Auch wenn alles zusammen ein wenig überladen wirkt, entfaltet das Gebäude doch eine beeindruckende Wirkung auf den Betrachter.
Noch ein Stück üppiger präsentiert sich der "Versicherungspalast Adria" (1922-25) von Janák (Jungmannova 36/31). Die Fassade erinnert an einen Renaissancepalast und ist durch das zahlreiche Ornament und die von Zinnen gekrönten Türmchen etwas zu überladen. Hier zeigt sich, wie weit der Rondokubismus getrieben werden kann, zugleich aber auch seine stilistischen Grenzen. Trotzdem oder gerade deswegen sind das Gebäude und die öffentlich zugängliche Passage einen Besuch wert.
Ein weiteres Beispiel ist das Gebäude der Brünner Bank von Gočár, erbaut 1921-23 (Jindřišská 1308/15). Hier zeigt sich, wie irreführend der Begriff "Rondokubismus" sein kann: Es finden sind keinerlei kreisförmigen Ornamente an der Fassade, stattdessen griff Gočár auf rechteckige Formen zurück. Auffällig ist auch der reiche Skulpturenschmuck der Fassade.
Der Rondokubismus sollte das Leben des Kubismus nach dem I. Weltkrieg noch einmal ein wenig verlängern, doch es handelte sich lediglich um eine Galgenfrist. In der Architektur erwies sich diese Richtung als Sackgasse und nach und nach wandten sich die kubistischen Architekten der (Internationalen) Moderne und dem Funktionalismus zu. Geblieben sind faszinierende architektonische Zeugnisse dieser Epoche, besondere Sehenswürdigkeiten in dieser an Sehenswürdigkeiten nicht armen Stadt.
"Kubistischer Stadtplan"
Neben den vorgestellten Gebäuden finden sich noch weitere über das Stadtgebiet verteilt, deren Lage, Architekten und Baujahr auf dieser Karte eingesehen werden kann:
Die Karte Kubistische Architektur in Prag in einem neuen Fenster öffnen. Und auch an vielen anderen Häusern in der Innenstadt wird der aufmerksame Betrachter (rondo-)kubistische Einflüsse und Elemente feststellen können.
Führer durch das kubistische Prag
Ein hervorragender Führer durch das kubistische Prag mit kompakten aber fundierten Hintergrundinformationen ist das Buch „Bau-Kunst - Kubistische Architektur in und um Prag” von Wolf Tegethoff, Jörg-Uwe Albig, Miloš Pistorios, herausgegeben von der Bayerischen Vereinsbank, München,1994.
Für Interessierte ebenfalls sehr zu empfehlen ist der umfangreiche und reich bebilderte Katalog "Kubismus in Prag 1909 - 1925. Malerei, Skulptur, Kunstgewerbe, Architektur", herausgegeben von Jiří Švestka und Tomáš Vlčeck., Stuttgart 1991. Neben der Architektur geht es hier auch um Malerei, Skulptur, Kunsthandwerk, Literatur, Musik und Film. Beide Bücher sind antiquarisch z.B. über Amazon.de oder Zvab.de zu beziehen.