Gleich mal vorweg: Unglaublich, dieser Spieltag. Von dem ich leider nur etwa 70% sehen kann. Doch die 20% des Endspiels um die Komplettierung der Viertelfinalbegegnung mit Teilnahme Deutschlands genügen für ein erschöpfendes Bild. Als ich den Computer ausschalte und den Unterricht beende, sehe ich, dass Italien mit 1:0 führt. Ich bin doch etwas überrascht, doch als ich fünf Minuten später in einem Lokal das Spiel sehe, wird mir gleich klar, warum. Am Nebentisch sitzen fünf Spanierinnen auf Klassenfahrt, schauen das Spiel und unterhalten sich gedämpft. Weiter vorne sitzen weitere fünf Mädchen auf Klassenfahrt und schauen ebenfalls das Spiel. Von ihnen kommen dann und wann die üblichen Ahs und Ohs, wenn Spanien mal eine Chance hat und Buffon hält. Daraus kann ich aber nicht zweifelsfrei schließen, dass es sich um Italienerinnen handelt.
Mädchenfußball
Spanien muss kommen, doch es ist gleich zu sehen, dass sie nicht so können, wie sie wollen. Italien spielt seinen Standardfußball mit aufopferungsvoller Defensivarbeit und gelegentlichen Nadelstichen. Nach einem Abwehrfehler fällt Piqué die Pille auf den Schlappen, das in einer Torentfernung von weniger als zehn Metern. Buffon hält den zu unplatzierten Schuss mühelos. Ahs hüben und Ohs drüben lassen darauf schließen, dass beide Mädchengruppen irgendwie an dem Geschehen Anteil nehmen.
Ausgerechnet Abwehrmann Piqué hat die größte Ausgleichschance, das sagt eigentlich alles über Spaniens Offensivabteilung. Iniesta hält mal drauf, doch Buffon pariert wieder. Von einer spanischen Drangperiode zu sprechen wäre übertrieben angesichts der Fruchtlosigkeit des Bemühens. Es gibt eine gelbe Karte für Thiago Motta, der damit im Viertelfinale aussetzen muss. Finde ich persönlich gar nicht so verkehrt, schließlich soll ja Deutschland gewinnen. Kurz vor Schluss setzt Pellè – nicht Pelé – nach einem Konter noch einen drauf, der Deckel ist auf dem Topf, die Katze im Sack und aus die Maus. Beide Mädchengruppen quittieren den Höhepunkt des Dramas überraschend gleichmütig - carramba, sind das denn keine richtigen Südländerinnen, wo ist das Temperament oder sind sie etwa bereits von der böhmischen Lethargie infiziert? - und verlassen kurz darauf das Lokal. Ich sehe in der Zusammenfassung das erste italienische Tor, Abwehrmann Chiellini ist dafür verantwortlich, nachdem de Gea einen Freistoß nicht festhalten kann. Dann hält de Gea noch ein, zwei Mal glänzend, während ich von Spanien kaum mehr zu sehen bekomme als das, was in den letzten zwanzig Minuten über den Bildschirm lief.
Mit Italien ist immer zu rechnen
Mit Spanien muss man sich ja auch nicht mehr beschäftigen, es ist zum zweiten Mal hintereinander frühzeitig aus einem Turnier ausgeschieden, der Lack ist ab, der Titelverteidiger draußen und Iniesta dürfte wohl seine internationale Karriere beenden. Was übrigens sein Vereinskamerad Messi in Übersee auch getan hat, nachdem erneut ein Endspiel vergeigt wurde, dass der Copa America gegen Chile. Beschäftigen muss man sich aber massiv mit Italien, das im Grunde genommen noch kein Gegentor kassiert hat. Das Spiel gegen Irland lief ja irgendwie außerhalb der Konkurrenz. Deutschland hat auch noch keinen kassiert, das verspricht nicht gerade ein Torefestival im Viertelfinale. Aber immerhin die Chance, dass Deutschland endlich mal seinen Angstgegner in einem Turnier besiegt.
Der Hammer des Tages war natürlich England. Ich begebe mich ins Rieger-Park-Stadion, doch die versprochenen englischen Fanhorden lassen sich nicht blicken, wahrscheinlich abgehalten von einem Nachmittagsgewitterguss. Zufällig treffe ich andere Bekannte und geselle mich zu einem Grüppchen, in dem sich zwei Engländer gegen die Häme zweier Amerikaner nach dem Brexit wehren müssen. Drei Tage nach der Wahl herrscht allerorten größtes Chaos, was der Brexit eigentlich für Folgen zeitigt. Es sieht tatsächlich so aus, als hätte niemand einen Plan gemacht, wie es im Fall der Fälle weitergehen soll. Nicht Boris Johnson, nicht die EU. Es werden immer mehr Wählerstimmen laut, dass sie gegen die EU gestimmt haben, aber eigentlich nicht aus der EU austreten wollen. Es soll bereits Gruppen geben, die lautstark eine Wahlwiederholung fordern. Boris Johnson soll sogar gesagt haben, dass er überhaupt nichts für den Fall seines Siegs vorbereitet hat. Und irgendwie hält man einfach so ein wichtiges Referendum nicht während eines großen Fußballturniers ab, finde ich. Wie sollen die Leute da rational handeln.
Wasserscheue englische Pessimisten
Also, das Spiel findet auch ohne meine erwarteten Engländerfußballfreunde statt. Mein Mitbewohner hatte mich bereits am Vorabend gewarnt. Wir verlieren. Ich dachte nur, so ein Quatsch, das ist bloß das übliche insulare Understatement. Nein, bekam ich zu hören, ist es nicht. Wir verlieren immer gegen Teams, die gerade gut genug sind uns zu schlagen. Gegen die Großen können wir immer mithalten. Tja, denke ich, wann habt ihr eigentlich das letzte Mal in einem Turnier gegen einen Großen was gerissen? Es ist immer noch das gleiche wie 1950, unterschwellig halten sich die Engländer nach wie vor für das Maß aller Dinge in dem Sport, dem sie seine moderne Ausprägung gegeben haben. Am folgenden Morgen treffe ich einen anderen englischen Bekannten, den ich gleich nach den Aussichten fürs Spiel frage. Keine guten, gesteht er mir. Wir verdienen es, von Island geschlagen zu werden.
Zurück aber ins Rieger-Park-Stadion, wo der Außenseiter erstaunlich viele Fans mobilisiert hat. Vereinzelt sitzen noch missmutige Menschen in Spanien-Trikots herum. Niemand trägt jedoch das neue spanische Trikot, das aussieht, als hätte ein Säugling sich an der Schulter Papas aus sämtlichen Körperöffnungen entleert. Engländer sind noch da, sie mischen sich unauffällig unter die Europäer. Ein Grüppchen Unentwegter hämmert die Nationalhymne mit, God save the Queen, besser wäre es zu sagen, God save the country from its politicians.
Elfer für England
Das Spiel beginnt und die Engländer bekommen gleich mal ein Elfmetergeschenk. Nicht vom Schiedsrichter, sondern von einem isländischen Verteidiger. Wayne Rooney, immer noch Liebling einiger Fans, die seinen Namen vor Anpfiff skandieren, weil sich das uh so erwartungsheischend langziehen lässt, trifft locker. Damit ist eigentlich alles bereitet für ein trotziges we stay. Doch dann bekommen wir das ganze Ausmaß der splendid isolation vorgeführt, an der dieses Land zugrunde gehen wird. Niemand scheint von der isländischen Spezialität ultralanger Einwürfe jemals gehört zu haben. Ein solcher Ball fliegt weit vors Tor, wird mit dm Kopf verlängert und am langen Pfosten netzt ein Isländer unbedrängt ein. Das Spiel ist gerade mal sechs Minuten alt und die Stimmung im Rieger-Park-Stadion siedet.
Dann folgt das nächste Exempel englischer Ignoranz. Hätten die Spieler nur mal fünf Minuten im Deutsch-Unterricht, der auf englischen Schulen weitverbreitet betrieben wird, aufgepasst, hätten sie gewusst, dass man auf den Spieler Sigthorsson aufpassen muss. Denn das ist ja nichts weiter als die isländische Umschreibung des deutschen Siegtor-Sohn, was nichts anderes sagen möchte als dass dieser Spieler der Vater des Erfolgs ist. Es klafft ein riesiges Loch zwischen Abwehr und Mittelfeld, Island spielt sich schnell durch und steht plötzlich mit drei Spielern vor der englischen Viererkette, die sich ängstlich an den Strafraum zurückgezogen hat. Zwei, drei Kurzpässe, ein kleines Dribbling, ein Schuss aufs Tor und Joe Hart setzt die gute alte Tradition katastrophalen Torhütens fort und lässt den weder überaus harten noch platzierten Ball von der abknickenden Hand ins Tor rollen. Das Desaster ist perfekt, die Stimmung kocht über.
Island haut England raus
Der Rest ist schnell erzählt. Natürlich greift England an. Natürlich gibt es Chancen, natürlich kommt in der zweiten Hälfte Vardy, der neue Wunderknabe von Sensationsmeister Leicester City. Natürlich gibt es noch ein paar strittige Szenen, doch die Elfmeterzuneigung des Schiedsrichters ist aufgebraucht. Auch Island setzt noch einige beachtliche Konter, doch das Ding ist durch, Island weiter, England draußen. Wie vorhergesagt.
Diskutiere dann noch eine Weile mit einem gefassten Engländer, der sich eh keine Illusionen gemacht hat. Den Trainer wird es wohl den Kopf kosten, glaubt er. Das ist natürlich höchst kurzfristig gedacht, aber so geht es nun mal zu im englischen Fußballverband. Keine Kontinuität. Und das kontinuierlich.