Prag - Tag 5: Diesmal schaffe ich es von der Arbeit nicht nur rechtzeitig zum Anpfiff, sondern sogar noch vorher in den Supermarkt. Es gibt also wieder Brot, Käse und Eier sowie Obst, denn nur dank einer gesunden Ernährung können ja die Strapazen einer WM auf Dauer überhaupt bewältigt werden.
Erste Abnutzungserscheinungen sind aber nicht zu übersehen, wieder kämpfe ich gegen den Schlaf. Dabei sitzt mit Otto Pfister sogar ein Deutscher auf der Trainerbank von Togo. Das Land ist mir ja seit meiner frühesten Jugend bekannt, dort wurde ein in jener Zeit sehr beliebter Tanzstil erfunden, dessen Namen ich mich gerade nicht entsinnen kann. Aber soviel ist gewiss, Walzer war es nicht und Breakdance auch nicht.
Gut, Otto Pfister soll der am schlechtesten bezahlte Trainer der WM sein und man sieht es gleich an den Löchern in seinem Anzug, der sicher noch aus der Kolonialzeit stammt. Damals hatte jener legendäre Gustav Nachtigal dem König von Togo ein verlockendes Angebot gemacht, das Land dauerhaft mit deutschen Trainern zu versorgen, wenn Togo den einen oder anderen Fußballer dafür springen lässt. Die werden dann schwarze Perle genannt und bekommen umgehend den deutschen Pass.
Gerald Assamoah ist so ein Ergebnis der deutschen Kolonialpolitik, seine Geschichte geht ja sogar noch weiter, weil seine Großeltern zu ersten Auswanderergeneration gehörten, die sich aus Verzweiflung über den Verlust der Kolonien in Ghana niederließen, um dort eine kleine deutsche Sprachinsel im slawischen Meer zu bilden. Als Belohnung für die Leistungen der Großeltern bekam der kleine Gerald seinerzeit seinen ersten Duden geschenkt und natürlich jenen heute legendären Gummiball, mit dem er in Accra seine erste Fensterscheibe einschoss. Von da an war klar, der Mann stürmt mal für Deutschland.
König Otto II. und eine warme Mahlzeit
Togo führt und wird doch vorgeführt. Otto Pfisters Gehalt reicht halt nur für eine Trainingseinheit und eine warme Mahlzeit am Tag, da geht der Torwart leer aus. Wenn die Spieler mit König Otto II. Taktikschulung an der Magnettafel betreiben, können endlich auch die Torhüter mit dem Ball trainieren. Den schließt Otto II. dann aber gleich sorgfältig weg, damit er nicht über den Zaun geschossen wird. Südkorea nützt das gnadenlos aus und soweit ich mich an dieses Spiel erinnern kann, haben die Südkoreaner sogar gewonnen.
Ist nun aber auch egal, denn ich muss zu einer Sitzung des Rates der vier Fußballwaisen. Tagungsort: das Hinterzimmer eines Lokals, welches häufig von den Einheimischen frequentiert wird (vgl. Tag 1). Habe mein Referat über den Einfluss der Abseitsfalle auf das Rudelverhalten und die Einführung der Leinenpflicht für Abwehrspieler noch nicht ganz ausgearbeitet.
Wir einigen uns dann auf ein gemeinsames Comuniqué und die dringende Empfehlung an Jürgen Klinsmann (der den Spitznamen „Klinsi“ tragen soll), seinen Abwehrspielern zumindest zu empfehlen, keine Gegentore zuzulassen. Klinsi soll ja angeblich sehr beratungsresistent sein, wie sich etliche Altinternationale im deutschen Zentralorgan beschweren. Der macht dann doch nicht, was andere wollen. Doch so eine allgemeine Empfehlung des Rates der vier Fußballwaisen hat natürlich eine ganz andere Durchschlagskraft.
Wo ist Zidane?
Nebenbei spielen auch noch die Weißen (Schweiz) gegen die Blauen (Frankreich). Da es sich dabei aber nur um ein Vorbereitungsspiel für höhere Aufgaben handeln kann, nehmen beide Mannschaften die Sache nicht so ernst. Ich suche auf dem Bildschirm den legendären Zinedine Zidane. Seit neuestem wird ja ein großes Geheimnis um sein wahres Geburtsdatum gemacht. Ich habe gehört, er soll in den beiden letzten Jahren in Madrid um ganze zehn Jahre gealtert sein. Unfassbar! Was muss dieser Mann durchlitten haben! Zwischendurch blendet das Fernsehen ein Phantombild von ihm ein und suggeriert, er stehe auf dem Platz.
Die Einheimischen interessieren sich eigentlich nicht für Fußball, die nette Runde nebenan diskutiert gerade den Einfluss von Edmund Husserl auf den Phänomenologen Patočka. Außerdem ist natürlich die Regierungsbildung hier immer noch eine heiße Nummer. Denn noch ist nicht klar, wer beim Empfang neben der Mannschaft auf dem Balkon stehen darf, die nach 5827 Tagen endlich wieder ein WM-Spiel bestritten durfte (Antwort auf die Frage von Tag 3).
Für das Abendspiel habe ich mir was Originelles überlegt. Ich ziehe eine Brasilienhose und Brasilien-Socken an. Treffe meine internationalen Freunde im Biergarten (siehe Tag 2) und bin mit allen gleich einig: Brasilien muss verlieren. Zehntausend Fans sitzen hier herum, 200 schauen sogar Fußball und als Brasilien trifft, jubeln zehn. Wir nicht, wir feuern Kroatien an (übrigens ein Farm-Team aus Gastarbeiter-Kindern). Und die schießen zurück. Leider stets auf den Tormann, der wie ein Wunder unverletzt bleibt.
Das Ergebnis spiegelt sich nicht die wahren Kräfteverhältnisse wieder. Die Einheimischen übrigens bekommen kaum mit, dass der Fußballtag zu Ende gegangen ist. Sie diskutieren wohl wieder über den Einmarsch von 1968. Ein wirklich rätselhaftes Volk.
Ihr deutscher WM-Beobachter in Prag
Schnell noch die Preisfrage: Wie heißt der von deutschen Kolonisten eingeführte und in die ganze Welt verbreitete Nationaltanz von Pogo - äh, Togo?