Das Ensemble des Balletts des Nationaltheaters (ND) in Prag nimmt in der Entwicklung der tschechischen Ballettkunst die Rolle des größten und am besten besetzten Ensembles des Landes ein. Mit seiner Gründung im Jahre 1883 entstand eine bis heute ununterbrochene Tradition in der Entwicklung des professionellen Tanzes.
Der erste Ballettmeister war Václav Reisinger (1882 – 1884). Im Nationaltheater war er an der Zusammenarbeit mit der Oper beteiligt und führte das Novum Haschisch (1884) auf.
Das Ensemble hatte am Anfang über 20 Mitglieder (davon drei Solistinnen und den Tänzer A. Berger). Nach dem Abgang von V. Reisinger nahm Augustin Berger seine Stelle ein, der das Ensemble von 1884 bis 1900 leitete und später auch noch von 1912 bi 1923. Er erweiterte das Ensemble, führte neben dem Theater eine Ballettschule, den Figurantenchor (Hilfstänzer) und verlieh dem Ensemble stabile professionelle Grundlagen. Im Repertoire fand man spektakuläre Produktionen, klassische Titel und tschechischen Neuheiten, die meist für ein Kinderpublikum bestimmt waren.
Bergers Nachfolger wurde Achille Viscusi, ein Repräsentant der italienischen Schule, der von 1900 bis 1912 im Nationaltheater wirkte. Seinen Namen verbindet man mit Aufführungen von Balletten von Oskar Nedbal, wie etwa Pohádka o Honzovi (Der faule Hans, 1902), Z pohádky do pohádky (Von Märchen zu Märchen, 1908) und Princezna Hyacinta (Prinzessin Hyacinthe, 1911). Im Repertoire führte er Schwanensee (1901) und Den Nussknacker (1908) ein. Von Bedeutung war zudem seine Ausführung von Dvořáks Slawischen Tänzen (1901).
Nach einer zweiten, weniger bedeutenden Zeit A. Bergers im Nationaltheater von 1912 bis 1923 übernahm der polnischstämmige Tänzer und Choreograph Remislav Remislavský die Leitung des Ballettkorps (1923 – 1927). Mit seiner Ankunft begann die russische Schule die zuvor dominante italienische Schule zu verdrängen. Das Repertoire wurde modernisiert, neben Titeln von Diaghilew (Scheherazade – 1924, Petruschka – 1925, Salade – 1926) tauchten, unter anderem durch das Verdienst des Opernchefs O. Ostrčil und des Regisseurs F. Pujman, auch die tschechischen Neuheiten Istar (1924), Doktor Faust (1926) und Kdo je na světě nejmocnější (Wer ist der Mächtigste auf Erden, 1927) auf.
Ein weiterer Leiter des Balletts des Nationaltheaters war der zuverlässige Jaroslav Hladík (1927 – 1933), der unter anderem die Signorina Gioventù und Nikotina (1930) vorbereitete. Zu dieser Zeit gastierte hier der fortschrittliche Choreograph Joe Jenčík (Špalíček / Liederbündel, 1933), der zusammen mit Jelizaveta Nikolska Ballettmeister und Choreograph (1936 – 1940) war.
Zeit nach 1945
Den großen künstlerischen Aufstieg brachte dem Ballett des Nationaltheaters die Nachkriegsära von Saša Machov (1946 – 1951). In seiner Person waren ein konzeptioneller Dramaturg mit einem feinfühligen Choreographen und erprobten Regisseur vereint, der seine Vorstellungen auf spezifische Weise umsetzte. In kurzer Zeit gelang es im Ballett des Nationaltheaters, eine starke und ambitionierte Truppe mit einer Reihe von Solopersönlichkeiten aufzustellen (Z. Šemberová, M. Kůra, V. Jílek, A. Landa, O. Stodola, J. Blažek). Die überzeugenden und attraktiven Inszenierungen brachten dem Ballett des Nationaltheaters allgemeine Anerkennung, ein hohes künstlerisches und gesellschaftliches Prestige und führten zu seiner Befreiung aus den Fittichen der Oper. Zu den besten Inszenierungen Machovs gehörten Les Noces (1947), Aschenbrödel (1948), Romeo und Julia (1950), von den tschechischen Neuheiten z. B. die Ballette Filosofská historie (Philosophische Geschichte, 1949) und Viktorka (1950) von Zbyněk Vostřák.
Als Ballettchef wurde 1957 Jiří Němeček aus Pilsen berufen. Unter seiner Regie (1957 – 1970 und 1979 – 1989) wurde das Ballett des Nationaltheaters zu einem großen, in puncto Inszenierungen emanzipierten Korpus, einem gleichberechtigten Partner des Opern- und Schauspielensembles. J. Němeček war ein Typ von Choreograph, der ähnlich wie ein Regisseur arbeitete. Seine Inszenierungen zeichneten sich durch einen festen Dramaturgie- und Regieaufbau, Geradlinigkeit und Verständlichkeit aus wie z. B. Der Diener zweier Herren (1958), Othello (1959) und Romeo und Julia (1962). Die Zusammensetzung des Repertoires und die Inszenierungsform wurden zunächst vom sowjetischen Muster des so genannten Drambalet beeinflusst (Mládí / Jugend – 1959). Ab den 60er Jahren waren modernere kürzere Werke in seinem Werk stärker vertreten wie Der verlorene Sohn (1963), Svědomí / Gewissen, 1964). Zu bedeutenden Gästen aus dem Ausland, die mit dem Ballett des Nationaltheaters zusammenarbeiteten, zählen J. Grigorowitsch, der Legende von der Liebe (1963) einstudierte, N. Dudinská und K. Sergejew (Schwanensee nach der traditionellen Version von M. Petipa und L. Ivanov, 1971).
Emerich Gabzdyl war von 1970 bis 1974 Ballettchef des Nationaltheaters und führte zum Beispiel Le sacre du printemps (1972), Lowiczské tance und Ondráš (1974) auf. M. Kůra brachte zusammen mit dem Regisseur P. Weigl eine originelle Version von Romeo und Julia (1971) auf die Bühne, die 255 Reprisen erreichte und sogar verfilmt wurde.
In den Jahren 1974 bis 1978 stand Miroslav Kůra dem Ballett des Nationaltheaters vor. Zu seinen Choreographien gehörten z. B. Dornröschen (1974), La Création du monde (1975) oder auch die zu einem Ballett umgestaltete Suite Radúz a Mahulena (1976).
Politischer Umbruch 1989
Von Januar 1990 an stand Vlastimil Harapes an der Spitze des Ensembles, fester Choreograph war L. Vaculík, der zusammen mit dem gastierenden Regisseur J. Bednárik einen modernen Balletttyp mit abendfüllender Handlung mitbrachte, der auch von Filmvorlagen inspiriert und mit einer musikalischen Kollage unterlegt war: Der kleine Herr Friedeman und Psycho (1993, erneuert 2000), Tschaikowski (1994), die eigentümliche Version des Balletts Coppélia (1995), Isadora Duncan (1998), das Komödien-Ballett Manche mögen‘s… (1994, erneuert 2001) und Mogli (1996) für das Kinderpublikum.
Die politische Wende in Folge der Samtenen Revolution ermöglichte eine Ausweitung des Repertoires um Titel aus dem westlichen Ausland wie Choreografie z Nizozemí (Choreographie aus den Niederlanden), Polní mše (Feldmesse) von B. Martinů und Návrat do neznámé země (Rückkehr ins fremde Land) von L. Janáček in einer Choreographie von J. Kylián, der Abend Amerikana I, Carmen ou La tragédie de Don José. Nach Onegin (1999) kehrte nach zehn Jahren Dornröschen (2000) auf die Bühne zurück und es wurden weitere bedeutende Titel aus dem weltweiten Repertoire aufgeführt wie z. B. Sinfonietta und L’enfant et les sortilèges (2000 – Choreographie: J. Kylián), Sphinx (2002 – Choreographie: G. Tetley) oder die letzte Premiere dieser Saison Der Widerspenstigen Zähmung (2003 – Choreographie: J. Cranko).
Seit Juli 2002 ist Petr Zuska der künstlerische Chef des Ballets des Nationaltheaters. Er widmet sich dabei nicht nur seiner choreografischen Arbeit, sondern tritt auch selbst noch als Tänzer in etlichen Solorollen auf.