Die Straßenbahn war voll. Fahrgäste, die keinen Sitzplatz ergattert hatten, hielten sich stehend an Stangen und Haltegriffen fest. Ihre Körper waren in der Enge auf Tuchfühlung. Plötzlich stand eine junge Frau auf und bot mir ihren Platz an. Mir war das ein wenig peinlich. Um Himmels willen, sehe ich etwa so alt und gebrechlich aus, ging es mir durch den Kopf. Ich machte ihr mit einer abwehrenden Geste klar, dass sie ruhig sitzen bleiben könne. Sie aber blieb stehen. Ich wollte nicht unhöflich sein, dankte ihr mit einem Lächeln und setzte mich.
Die Szene hat sich mehrfach wiederholt. Mal waren es Kinder, die sich bei meinem Anblick erhoben, ein anderes Mal junge Burschen, die nicht wie Touristen aussahen. Das konnte kein Zufall sein. Anstand und Höflichkeit gehören in Prag offenbar zur familiären Erziehung. Welch krasser Unterschied zu Berlin. In dieser ruppigen Stadt, in der mein Zuhause ist, käme wohl niemand auf die Idee, einem älteren Menschen in der U- oder S-Bahn seinen Platz anzubieten. Oft habe ich erlebt, dass an Haltestellen in der Nähe von Schulen die Kids die Waggons stürmen und rücksichtslos Plätze okkupieren und bis zum Aussteigen verteidigen.
Im fortgeschrittenen Alter kommt es häufig vor, dass man beim Spazieren durch die Stadt plötzlich eine Toilette aufsuchen möchte. In Berlin kann man in einer solchen Situation leicht in Schwierigkeiten kommen. Die Zahl der öffentlichen Toiletten ist bei weiten nicht ausreichend. Man ist dann gezwungen, in ein Kaufhaus oder ein Restaurant auszuweichen. Nicht so in Prag. Überall in der Stadt, vor allem in und um Metro-Stationen, finden sich Örtchen, in denen man sich gegen eine geringe Gebühr von 20 Kronen erleichtern, die Hände waschen und an einem Gebläseautomaten trocknen kann. In der Regel gibt es auch eine Reinigungsfrau, die das Geld kassiert und für Sauberkeit sorgt. Für mich ist das Alltagskultur auf tschechisch.
Jeden Morgen, wenn ich aus dem Fenster meiner gegenwärtigen Wohnung am Masaryk-Kai schaue, beobachte ich einen Mann, der den Spielplatz auf der Slovansky ostrov, der Slawen-Insel, säubert. Er hebt Abfall auf und streicht mit einem Rechen die Sandflächen glatt, in denen tagsüber Kinder mit ihren Plastikeimern und Schaufeln buddeln. Die eingezäunte Anlage ist bei den Anwohnern beliebt. Es gibt Rutschen und Schaukeln, Balancierbalken und Seilgerüste zum Klettern, alles aus Holz und Metall in angenehmen Farben. Am Vormittag sehe ich kleine Kinder in gelben Westen, die von ihren Betreuerinnen begleitet werden. Am Nachmittag sind es oft Opa oder Oma, die auf ihre Enkel aufpassen.
Die Slaweninsel war wie das benachbarte Schützen-Eiland vom Hochwasser überschwemmt. Die Anlagen und Wege wurden in jüngster Zeit komplett erneuert. Eine strenge Ordnung, die auch den nicht tschechisch sprechenden Touristen durch Symbole vermittelt wird, soll jedweder Verwahrlosung vorbeugen. Der Konsum von Alkohol und Drogen ist ebenso verboten wie rauchen, campen und skaten. Das gilt auch für andere Parkanlagen. Das Wegwerfen von Kaugummis und Zigarettenkippen auf der Straße steht unter Strafe. Szenen wie in Berlin, wo junge Menschen auf offener Straße und in Bus und Bahn wie selbstverständlich eine Bierflasche in der Hand haben, sind an der Moldau verpönt. Alkohol darf nur in geschlossenen Räumen getrunken werden. Freilich drücken die Ordnungshüter schon mal eine Auge zu, wenn Ausländer aus Unkenntnis gegen diese Regel verstoßen.
Was öffentliche Sauberkeit betrifft, kann Berlin von Prag durchaus lernen. Ich sah Geschäftsleute, die vor ihren Läden den Gehsteig fegten. Kaum dass die Sonne scheint und es wärmer wird, sind Fahrzeuge mit Wassertanks unterwegs, um die vielen gepflasterten Gassen zu nässen. Auch an den kleinsten Grünanlagen der Stadt gibt es neben Papierkörben Behälter mit Plastiktüten, aus denen sich Mann und Frau beim Ausführen des Hundes bedienen. Auf „Tretminen“, die an der Spree nach wie vor Gehwege und Straßenränder zieren, braucht man hierzulande nicht aufzupassen. Anders als in Berlin gehören Bettler und betrügende „Hütchenspieler“ nicht zum Bild der Stadt. Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten. Taschendiebe treiben hier wie dort ihr Unwesen. Und auch die Sprayer haben an Prager wie an Berliner Hauswänden ihre Spuren hinterlassen.
Als ich wieder einmal mit der Straßenbahn unterwegs war, ließen sich Kontrolleure die Fahrausweise zeigen. Ein junger Mann, der Englisch sprach, hatte kein gültiges Billett. Er wurde bei der nächsten Station vom Aufseher hinaus gebeten. Als er sich weigerte, seine Personalien anzugeben, drohte der Kontrolleur mit der Polizei. Ich hatte zwar auch kein Ticket, aber ein gutes Gewissen. Bei der nächsten Kontrolle griff ich nach meinem deutschen Personalausweis und zeigte auf mein Geburtsjahr: 1939. Der Kontrolleur nickte. Menschen, die älter als siebzig sind, dürfen die Prager Verkehrseinrichtungen gratis nutzen. Das gilt auch für Ausländer. Mit dieser sozialen Wohltat steht die tschechische Hauptstadt zumindest in Europa vermutlich allein.
geschrieben am 12. April 2015