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Der Autor

Peter Pragal wurde 1939 in Breslau (heute Wrocław, Polen) geboren. Nach Flucht und Vertreibung kam er mit seiner Familie nach Deutschland, wo er das Abitur machte und nach dem Studium der Publizistik, Neueren Geschichte und Politik auch die Journalistenschule in München besuchte.

Als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung war er für die Berichterstattung aus der DDR, Bulgarien, Rumänien, der Tschechoslowakei und Ungarn zuständig. Pragal war außerdem leitender Redakteur bei der Berliner Zeitung. Seit 2004 arbeitet er als freier Journalist und Publizist in Berlin.

Basierend auf persönlichen und professionellen Erfahrungen hat er mehrere Bücher herausgegeben, unter anderem "Der geduldete Klassenfeind - Als Westkorrespondent in der DDR" und "Wir sehen uns wieder mein Schlesierland - Auf der Suche nach Heimat".

Im Internet: www.prager-literaturhaus.comwww.prager-literaturhaus.com

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Erste Annäherung - ein Rückblick

Prager Tagebuch (3)

In keiner europäischen Hauptstadt - Berlin natürlich ausgenommen - bin ich so oft gewesen wie in Prag. Weder in Wien oder Paris, noch in Brüssel oder Warschau. Beim Nachzählen bin ich auf knapp zwei Dutzend Reisen gekommen, die ich in annähernd 50 Jahren in die Stadt an der Moldau unternommen habe. Die wenigsten waren privat. Meistens habe ich für ein, zwei Tage Politiker begleitet oder war - eingebunden in ein straffes Programm - offiziell eingeladen. Trotzdem wäre es vermessen zu sagen, ich würde Prag kennen. Über die klassischen Innenstadtviertel sind meine Erkundungen nie hinausgekommen. Inzwischen habe ich eingesehen, dass man Wochen braucht, um die tausendjährige Stadt zu entdecken und wahrscheinlich Jahre, um sie zu verstehen.

Begonnen hatte die Annäherung im Jahr 1967. Von München aus, wo meine Frau und ich ein Jahr nach unserer Heirat wohnten, sind wir in die tschechoslowakische Hauptstadt gefahren. Ein Freund begleitete uns. Am 1. Mai wurden wir Zeugen einer Demonstration, die sich deutlich von den politischen Ritualen abhob, wie sie damals in anderen kommunistischen Staaten am „Tag der Arbeit“ zelebriert wurden. Statt in geordneten Formationen zu marschieren gingen die Menschen zwanglos über die Straße. So als liefen sie spazieren. Manche hatten Fahnen dabei. Transparente mit parteilich vorgegebenen Losungen, wie  sie in kommunistischen Diktaturen üblich waren, haben wir nicht gesehen. Wir spürten, dass sich hier eine politische Veränderung anbahnte. „Damals wollten die Menschen Reformen“, sagt mir ein pensionierter Diplomat. „Heute fürchten sie Reformen, weil nach ihrer Erfahrung damit alles nur schlechter wird.“ 

Ende Juli 1968 bin ich nach Sofia geflogen, um für die Süddeutsche Zeitung über die „Weltfestspiele der Jugend und Studenten“ zu berichten. Wenn ich nicht gerade mit deutsch-deutschen Auseinandersetzungen beschäftigt war, verbrachte ich viel Zeit bei der tschechoslowakischen Delegation. Wie viele Angehörige meiner Generation faszinierte mich der Versuch, in unserem Nachbarland einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu schaffen. Ich war noch auf der Suche nach einer politischen Vision, konnte mir nicht vorstellen, dass die reine Marktwirtschaft, ein die Politik dominierender Kapitalismus das Ende der gesellschaftlichen Entwicklung sein sollte. Deshalb begeisterte ich mich für den „Prager Frühling.“ Wenn es tatsächlich  gelingen sollte, das bürokratisch-zentralistische Planungssystem zu überwinden, die Betriebe von staatlicher Reglementierung zu befreien und eine demokratische Ordnung ohne selbst ernannte Führer zu etablieren, dann - so dachte ich - wäre das der von vielen Menschen in Ost und West erträumte „dritte Weg.“: eine Gesellschaftsordnung mit Pluralismus, sozialer Gerechtigkeit und Meinungsfreiheit - kurzum ein Modell für die Zukunft.

Fast jeden Tag saßen westliche Journalisten mit ihren tschechoslowakischen Kollegen zusammen und ließen sich über die Veränderungen in ihrem Land unterrichten. Manchmal kamen Schriftsteller und Künstler hinzu. Funktionäre aus Moskau-treuen „Bruderländern“ beobachteten diese Zusammenkünfte mit Argwohn. Sie bezichtigten die Vordenker der Reformbewegung des Verrats am Sozialismus. Die antworteten souverän, diese Anklage werde von jenen erhoben, die den Sozialismus in Misskredit gebracht, ihn betäubt und in eine Religion von Ikonen und Heiligensprüchen verwandelt hätten. „Der Sozialismus unserer Vorstellungen“, so der Schriftsteller und Drehbuchautor Jan Prochazka, „ist ein lebendiger Sozialismus, überschäumend von einem Wettstreit der Ideen, und kein trostloser Kerker der Vernunft.“

Für den Rückflug hatte ich zwei Maschinen gebucht. Zunächst wollte ich mit einer CSSR-Maschine nach Belgrad fliegen und von dort mit einer jugoslawischen nach München. Als ich in Sofia das Flugzeug betrat, beobachtete ich mit Staunen, wie die tschechischen und slowakischen Passagiere geradezu gierig nach den Zeitungen griffen, die ihnen die Stewardess hinhielt. Sie brannten darauf zu erfahren, was zu Hause vorging. Nie zuvor hatte ich erlebt, dass sich Leute um kommunistische Parteiblätter rissen. Doch die hier angebotenen Exemplare waren nicht mehr mit Phrasen gespickte Sprachrohre einer Parteidiktatur, sondern Gazetten, die von Journalisten ohne Zensur geschrieben und redigiert waren. 

Das war am 7. August. Zwei Wochen später, in der Nacht zum 21. August, wurde ich durch einen Anruf meines Ressortleiters geweckt. In der Tschechoslowakei seien Truppen des Warschauer Paktes einmarschiert, sagte er. Ich solle mich sofort ins Autor setzen und hinfahren. Als ich in Furth im Wald an die Grenze kam, war der Übergang gesperrt. Zwei Stunden zuvor, erklärten mir bayerische Beamte, hätten ihre Kollegen von der anderen Seite Bundesbürger noch passieren lassen. Ich spürte eine doppelte Enttäuschung. Die Vision Alexander Dubceks und vieler seiner Landsleute von einem Sozialismus mit menschlichen Antlitz war geplatzt. Und statt aus Prag berichten zu können, stand ich vor einer geschlossenen Grenze.

geschrieben am 7. April 2015

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