Prag ist auch eine Übung im Alleinsein. Die Einsamkeit, die ich mir für das Schreiben am Roman in den letzten Wochen und Monaten so sehr herbeigewünscht hatte, hat nun überhand genommen. Ich gehe auf den Neuen Jüdischen Friedhof und stehe lange vor Kafkas Grab. Sehe mir die U-Bahnstation Náměstí Míru an, deren blaue Wände an Frieden erinnern sollen und laufe durch die Lucerna-Passage, in der das Pferd von David Černý hängt. In der Kunsthalle sehe ich mir eine Fotografie-Ausstellung an, Lucia Moholy, eine Bauhaus-Fotografin. Zwischen den Fotografien denke ich darüber nach, wann ich das letzte Mal eine Kamera und nicht nur mein Handy zum Fotografieren in der Hand hatte.
Später laufe ich die Myslíkova entlang und über den Karlsplatz. Das Wetter meint es seit Anfang des Monats gut, die Sonne scheint. Ich betrete spontan die St. Ignaz Kirche, stemme mich gegen die große, schwere Tür. In der letzten Reihe nehme ich Platz und beobachte die wenigen Gestalten, die weiter vorne sitzen und murmeln, knien, beten, schweigen. Ihre Umrisse sind gegen den erleuchteten Altar nur schemenhaft zu erkennen. Eine Weile schweige ich mit ihnen und betrachte die vielen Abbildungen des Glaubens, die dieses Gebäude trägt. Dass Religion mit so viel Grausamkeit in Verbindung steht, irritiert mich. Aber die Stille hält mich lange auf der Bank. Ich denke an Zuhause. Daran, was meine Familie wohl gerade macht. Dass ich sie später anrufen werde.
Eine Textstelle beschäftigt mich, ich habe sie die letzten Tage wieder und wieder überarbeitet, sie will mir nicht gelingen. Ich denke darüber nach, sie vorerst aufzugeben und an einer anderen weiter zu schreiben. Da klärt sich hier in der Kirche, was gefehlt hatte: eine Kleinigkeit, nur ein winziger Aspekt. Ich tippe eine Notiz in mein Handy und lese die vorigen durch. Tagebucheinträge, Textideen, Geistesblitze, Einkaufslisten.
Als ich Richtung Ausgang laufe, haben sich mehrere Menschen eingefunden und sehen sich mit großen Augen leise um. Die schwere Tür gibt den Blick auf die Straße frei, ich laufe Richtung Wasser und reihe im Kopf schon Worte und Sätze aneinander.
Eine Freundin kommt mich besuchen und ich sehe Prag von einer ganz anderen Seite. Löse mich von meinem Schreibtisch und meiner Einsamkeit, und nehme mir drei Tage frei. Wir sitzen im Café Savoy, gehen über den Náplavka Markt und in Antiquariate, Second Hand-Läden und trinken Kaffee in der Sonne. Wir flanieren über die Karlsbrücke und versenden Postkarten, sitzen im kleinen Café Club Míšeňská, das durch seinen Wintergarten und die Regale voller Bücher besticht. Als meine Freundin sich verabschiedet und abreist, ist die Wohnung scheinbar noch größer, als zuvor.
Ich lese ein weiteres Mal Kafkas Tagebücher und erinnere mich daran, dass er mich zum Lachen bringt. Ich denke an Anna Fodorovás Abschied von meiner Mutter, das mich zum Nachdenken gebracht hat, wie man über die eigene Mutter schreiben kann. Außerdem liegt auf meinem Nachttisch Der Golem von Meyrink und wartet, weitergelesen zu werden.