Prag - Er ist der wichtigste tschechische Komponist der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In diesem Jahr wäre der 2006 verstorbene Viktor Kalabis einhundert Jahre alt geworden. Zwei CDs mit Kammermusik geben einen tiefen Eindruck des Wirkens dieses ebenso bedeutenden wie bescheidenen Mannes.
Kalabis war vielleicht kein ausgesprochen religiöser Mensch, und doch leitete ihn in seinem Schaffen die Annahme, dass unser menschliches Dasein immer von den großen Momenten der Kartharsis in eine neue Richtung gelenkt werden. Also von jenen Bruchpunkten, an denen eine aufgestaute Energie aus einer zwanghaften Ruhestellung zu einer Entladung kulminiert, bis dann in eine Phase der Ausgeglichenheit - religiös würde man von Reinheit sprechen - eintritt. Diese Daseinsregel gelte sowohl im Leben wie in der Politik - und somit für einen Komponisten zwangsläufig in der Musik. Das umfangreiche symphonische Werk von Kalabis legt unabhängig der Jahre seiner Entstehung Zeugnis davon ab, ob es sich nun um seine fünf Symphonien oder die beiden Violinkonzerte handelt.
Das heißt aber nicht, dass sich die Musik über die vielen Jahre hinweg völlig gleichen würde. Denn die Zeitumstände sind immer andere, ebenso die Wahrnehmung darüber, worin der Zwang besteht, der zu jener Ruhe führt, aus der nur eine Entladung beenden kann. Was ja vielleicht das besondere an der historischen Situation unter dem Kommunismus und seines Endes in Europa war, dass tatsächlich beinahe die ganze Gesellschaft die gleiche Wahrnehmung einer Bedrängnis teilte. Ob Arbeiter oder Künstler: die Zwanghaftigkeit der lebensbeschränkenden Ruhe empfanden die meisten Menschen im damaligen Ostblock gleichsam bedrückend, und zumindest in dem ersten Jahrzehnt nach der samtenen Revolution die freie Lebensweise gleichsam beglückend. Das mag heute nicht mehr so sein, woher vielleicht auch die extreme Zuspitzung der unterschiedlichen Wahrnehmung und Benennung der als "unfrei" empfundenen Umstände rührt. Zugespitzt könnte man sagen: Nach der Kartharsis ist vor der Kartharsis.
Ob der Musikschaffende tatsächlich in der Lage ist, mit seiner Musik die Dinge, die ihn bestimmt haben, so auszudrücken, dass auch ein Hörer sie genauso wahrnehmen wird? Zumindest machen es uns die modernen Komponisten des östlichen Teils Europas leichter, ihr Anliegen zu vermitteln. Denn ihre Modernität bestand im Gegensatz zu ihren westlichen Kollegen nicht in der Konterkarierung des Vorangegangenen, sondern seiner bewussten Weiterentwicklung. Somit lässt sich bei einem so in seiner Zeit stehenden Komponisten wie Viktor Kalabis bestens nachvollziehen, wie er in der jeweiligen Entstehungszeit nach dem Ausdruck seines Empfindens rang. Und möglicherweise am innerlichsten noch an seinen Kammerwerken. Zwei CDs eröffnen uns dafür eine ganz besondere Gelegenheit: drei Kammersonaten aus bewegten und unbewegten Zeiten, sowie die Einspielung seiner sämtlichen Klavierstücke.
Die beiden Sonaten für Klavier und einmal Cello und dann Klarinette entstanden in den Schicksalsjahren 1968 und 1969, und ihre Struktur und Grundstimmung liest sich wie ein Tagebuch der Ereignisse um Ende das Prager Frühlings: Dramatisch, stolz und trotzig am Beginn, meditativ und resigniert am Schluss die erste Sonate, die während des Einmarsches der Armeen Warschauerpaktstaaten entstand. Traurig und trotzdem widerständig die zweite Sonate, in der die bissige Klarinette sich steigert in die höchsten Register, um schließlich zu erschöpfen. 1982 entstand schließlich die Sonate für Geige. Es ist die meditativste der dreien, zieht sich ins Innere zurück und erlebt dort ihre eigenen Momente der Reinheit und Klarheit.
Die Klavierwerke umfassen einen Zeitraum von 1947 bis 1999, also über all die Wendezeiten hinweg, in denen sich das Leben des Komponisten vollzog. Denn früh geriet Viktor Kalabis - wie so viele seiner künstlerisch und wissenschaftlich engagierten Landsleute - in den Zwiespalt der "neuen Zeit". Neu sollte alles werden, aber im Grunde war es eine Periode des Stillstandes. In diesem Netz aus der Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität gefangen, wurde auch der Komponist einerseits Bestandteil des Systems: Er übte seinen Beruf im staatlichen Rundfunk aus, komponierte teils für die große Bühne und gewann damit Staatspreise. Gleichzeitig aber wirkte er auch immer in einem kleinen Kreis Gleichgesinnter, in deren Auftrag so manches musikalisches Kleinod entstand. Die wunderbar von Ivo Kahánek eingespielten Klavierstücke gehören zum Letzteren. Drei umfangreiche Klaviersonaten stehen neben kurzen, aber klanglich reichen "Akzente" genannten Studien.
Diese Musik aus einer Spanne von über fünfzig teils starren, teils sehr bewegten Zeiten lässt keine Gefühlswahrnehmung aus. Und vielleicht ist es ja der Umstand, der diese Musik so besonders berührend macht, dass die tatsächliche gesellschaftliche und politische Kartharsis, die sich während dieses Komponistenlebens zutrug, sich als einer der hellsten historischen Momente unserer jüngeren Geschichte entpuppte. Alle Ereignisse, die nach den samtenen Revolutionen von 1989 und 1990 als epochale Bruchpunkte erkennbar wurden, ließen unsere Welt dann eher wieder verdunkeln. (mm)
Alle Angaben zu den erwähnten CDs mit Musik von Viktor Kalabis:
Drei Sonaten
Jamník (Cello), Paulová (Klarinette), Fišer (Geige), Kahánek (Klavier)
SU 4210-2
Hörbeispiele unter: https://www.supraphon.com/album/412673-kalabis-sonatas-for-cello-clarine...
Sämtliche Werke für Klavier
Ivo Kahánek
Doppel-CD mit einer Spieldauer von 2 Stunden
SU 4259-2
Hörbeispiele unter: https://www.supraphon.com/album/454014-kalabis-the-complete-piano-works
Zudem geben diese Sammlung zeitgenössischer Einspielungen einen Einblick in das orchestrale Schaffen von Viktor Kalabis:
Symphonien und Konzerte
Tschechische Philharmonie
3 CDs mit einer Gesamtspieldauer von 3 1/2 Stunden
SU 4109-2
Hörbeispiele unter: https://www.supraphon.com/album/4352-kalabis-symphonies-concertos
Eine Webseite, die Viktor Kalabis und seiner Frau, der Cembalistin Zuzana Růzičková, gewidmet ist, findet sich unter: https://kalabismusic.org/