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prag aktuellprag aktuell | Rubrik: Kultur | 20.6.2022
Ein Jahrhundert Art Brut in Bildern: (Ne)Moc – Power(less) im Zentrum für Gegenwartskunst DOX / Von Gerd Lemke

„Nebyl jsem nemocný, byl jsem mocný až moc.“ („Ich war nicht krank, ich war nur mächtig – und das zu viel.“) Zdeněk Košek – der Mann, der das Wetter machte

Prag - Die Ausstellung hat dieses Zitat zum Leitmotiv gewählt und daraus den Titel abgeleitet: (Ne)Moc. Eine kurze Erläuterung zum tschechischen Titel, dessen Wortspiel die englische Version (auf deutsch: „Macht(los)“), nicht wiedergeben kann. „moc“ heißt Macht, in Zusammensetzung mit der Negation „ne“ Krankheit („nemoc“). Als einzelne Wörter gelesen folgt aus der zweiten Bedeutung von „moc“ („viel“) „nicht viel“. Košeks Spiel mit den Bedeutungen steckt die Koordinaten ab, zwischen denen sich viele gezeigte Werke bewegen: Krankheit, Macht und Allmacht.

Worum also geht es in der Ausstellung, die bis zum 6. November im Erdgeschoss des unabhängigen Kunstzentrums DOX gezeigt wird? Um eine Gegenüberstellung von Werken anerkannt geistig Kranker mit anerkannter Kunst über kranke Geister. Was als Werkschau eines Jahrhunderts „Art Brut“ der leider vor einem Jahr verstorbenen Kuratorin Ivana Brádková konzipiert war, mausert sich unversehens zur Zeitdiagnose unserer Gegenwart am Abgrund zum Dritten Weltkrieg. Der aggressive Totalitarismus ist wieder ausgebrochen.

Guns, guns, guns Negativland

Die Ouvertüre der Ausstellung orchestriert der tschecho-kanadische Künstler Marek Schovánek im Vorraum. Ganze Wände dekoriert er monothematisch mit Objekten aus Teig. Wie frische Brötchen locken Handgranaten in einer Glasschale zum Zugreifen. Pistolen in vielen Formen, Größen und Ausführungen bedecken eine Wand. Guns, guns, guns hämmerte die kalifornischen Post-Punk-Band Negativland vor 30 Jahren ins Ohr. Visuell sezierte der Dokumentarfilmer Michael Moore in Bowling for Columbine die amerikanische Obsession für Waffen – die US-amerikanische, um genau zu sein. Die kanadische Perspektive kontrastiert das erst richtig grell, wie im Film, so im Museum.

Die Realität holt die Kunst ein

Zufall oder Zwangsläufigkeit, dass die Ausstellung nur eine Woche nach einem neuerlichen Massaker in den USA öffnet? Tatort diesmal eine Grundschule in Texas, wo 19 Kinder erschossen werden. Ex-Präsident Donald Trump erwähnt sie mit keiner Silbe in seiner traditionellen Rede auf der Jahresversammlung der Waffenlobby-Organisation NRA, nur zwei Tage später. Gegen Waffen helfen nur mehr Waffen, so seine frappierende Logik.

Zurück ins DOX, wo die Waffen wenigstens nicht schießen können. Eine andere Wand bestückt Schovánek mit Injektionsspritzen und installiert auf eine weitere Zitate berühmter Persönlichkeiten: „Dankbarkeit ist eine Krankheit, an der Hunde leiden“ Josef Stalin. Oder „Das Ziel allen Lebens ist der Tod.“ Sigmund Freud.

Von Schováneks Separée aus stolpert der Besucher im Labyrinth der Ideologien über eine Installation Feuerlöcher, wird von drei ausgestreckten Armen römisch begrüßt (Maurizio Catellan) und von einem Remake des Totentanzes der 1930er Jahre (Mertin Gerboc) in den Bann gezogen. Daneben hängen Zeichnungen von Andreas Maus, einem der als „psychopathisch“ Diagnostizierten. Die mit einfachster Technik entstandenen Werke zeigen Motive aus dem Dritten Reich. Bilder und Symbole der totalitären Ideologien finden sich in allen Räume. Die Ausstellung bleibt dabei auf Europa und Amerika fokussiert. Wer Näheres über China erfahren will, braucht nur treppaufwärts zu gehen, dort befindet sich die Werkschau eines zeitgenössischen Künstler aus dem Reich der Mitte (BADIUCAO MADe IN CHINA, noch bis 28. August).

Transparente von Jelena Osipova

Wenn es um Krankheit, Macht und Wahn geht, darf natürlich ein Land nicht fehlen. Tatsächlich hängen im DOX die Transparente von Jelena Osipova, mit denen die 77-Jährige im März gegen den russischen Überfall auf die Ukraine protestiert hat. „Glaub nicht an die Gerechtigkeit des Kriegs“ schreibt sie. Die Aufnahmen ihrer Festnahme in St. Petersburg gingen im Internet viral. Dass die Transparente in Prag sind, gleicht einer Sensation. Wie das gelungen ist, wird Otto Urban, einer der Kuratoren, sicher irgendwann genauer erzählen.

„Bildnerei der Geisteskranken“ als Impuls

Man kann hier nicht alle 40 Namen der beitragenden Künstler aufzählen, auch nicht die vielen und vielfältigen Geschichten dahinter. Als ein Impuls beruft sich die Ausstellung auf die bahnbrechende Publikation „Bildnerei der Geisteskranken“, die Hans Prinzhorn vor genau 100 Jahren veröffentlicht hat. Sie gilt als Meilenstein für die moderne Kunst, nicht mehr die schönen Dinge möglichst künstlerisch darzustellen. Statt „fine art“ dominiert „Art brut“, die „herbe“ Kunst, die mitunter auch zur „brutalen“ wird. Wie fallende Raketen, die Jan Wölfchen Vlček auf Leinwand festhält, bevor sie ihren Schaden anrichten.

Ein Stück Utopie

Was ist krank, die Hirne der Künstler oder die Welt, die sie abbilden? Zeugt Jerry Gretzingers monumentales Mosaik vom Verlust von Verhältnismäßigkeit oder von Detailbesessenheit? 18 km² sollen laut Autoreninformation insgesamt zusammengekommen sein, da nehmen sich die paar Quadratmeter der idealen Welt aus der Vogelperspektive mit dem schönen Namen „Ukrania“ im DOX eher bescheiden aus.

Tschechiens Beitrag

Unter den „herben“ Kunstwerken sind auch sehr schöne Graphiken im typischen Stil der 1960er Jahre von Marie Kodovská zu sehen. Die tschechischen Künstler stellen die größte Gruppe, die Konzeption sieht vor, zeitgenössische Künstler um Beiträge zum gegebenen Thema zu bitten. Nicht fehlen darf dabei natürlich der Sonderling Zdeněk Košek. Eine Psychose hatte in den 1980er Jahren die Allmachtsphantasie ausgelöst, das Wetter auf der ganzen Welt unter seiner Kontrolle zu haben. Und wer das Wetter macht, hat gleich die Geschicke der ganzen Menschheit in seiner Hand. Geht der Untergang der kommunistischen Macht und der Zerfall ihrer Zentrale, der Sowjetunion, also auf Košeks Kappe? Mittelbar also auch Putins Krieg? Antworten darauf sind in den Zeichnungen und dem Video (mit englischen Untertiteln) zu finden, die in die geheimnisvolle Welt des Omnipotentaten einführt. In Košeks Welt, dem harmlosen Größenwahnsinnigen. (gl)

 

(Ne)Moc – Power(less), DOX, Poupětova 1, Prag 7, Mittwoch bis Sonntag 12-18h, die Ausstellung läuft noch bis 6.11.2022

Weitere Infos: www.dox.cz
Bildnachweis:
Gerd Lemke - Protesttransparent von Jelena Osipova
Themen: Ausstellungen
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