Prag - Die 29. Ausgabe des Prager Theaterfestivals deutscher Sprache präsentiert vom 2. November bis zum 7. Dezember eine Auswahl herausragender deutschsprachiger Inszenierungen aus den Repertoires renommierter Theaterhäuser. Vertreten sind unter anderem das Berliner Ensemble, die Schaubühne Berlin, das Schauspielhaus Bochum, das Volkstheater Wien und die Volksbühne Berlin, deren Ensemble mit der außergewöhnlich starken, jedoch leider letzten Inszenierung des bekannten Dramatikers und Regisseurs René Pollesch in Prag gastiert. Neben beeindruckenden internationalen Produktionen ist traditionell auch eine tschechische Aufführung zu sehen, die mit dem Josef-Balvín-Preis ausgezeichnet wird – in diesem Jahr ist es das Divadlo LETÍ. Zudem erwartet die Zuschauer ein attraktives Off-Programm, darunter ein deutsch-tschechisches Kabarett über Franz Kafka sowie ein „kafkasches“ Märchen.
„Das Motto des diesjährigen Festivals lautet nichts ist ok. Diesen Ausdruck haben wir teilweise von der Berliner Volksbühne übernommen, nichts ist ok verweist jedoch vor allem auf den bedauerlichen Zustand der Welt, erschüttert von Konflikten und mit einer schleichenden Tendenz zu Totalitarismus und Unfreiheit. Wieder einmal droht die Banalität des Bösen... Lasst uns also die Welt verbessern, wie pathetisch das auch klingen mag. Lasst uns im Einklang leben und mit alltäglichen Kleinigkeiten den Frieden fördern. Möge die Welt bald wieder OK sein! Schließlich ist gerade das Theater eine der Instanzen, die das Unrecht in der Welt aufzeigen kann “, sagt Festivaldirektor Petr Štědroň.
Der Ticketvorverkauf auf GoOut beginnt am 30. Oktober – weitere Informationen finden Sie auf der Festival-Website www.theater.cz. Alle deutschsprachigen Aufführungen werden mit tschechischen Übertiteln gezeigt.
Eröffnet wird das diesjährige Festival mit der eintägigen Performance HABIBI KIOSK PRAGUE: Metamorphosis! An interactive Playground im Kaiserstein-Palais auf der Prager Kleinseite. Habibi Kiosk ist ein Projekt der Münchner Kammerspiele, dessen Prager Version im Rahmen einer Koproduktion mit dem Goethe-Institut Tschechien und unserem Festival speziell für unser Festival entwickelt wurde. Die Inszenierung ist auf unkonventionelle Weise von Franz Kafkas Werk inspiriert, insbesondere von seiner Erzählung Die Verwandlung. Am 2. 11. können Sie im Kaiserstein-Palais auf der Kleinseite überraschende Verbindungen zwischen Kafkas Werk und dem heutigen Prag entdecken – und vielleicht erleben Sie zumindest für kurze Zeit selbst eine kleine Verwandlung…
Der tschechischen Theaterszene möchte das Prager Theaterfestival deutscher Sprache nicht nur über sein Programm neue Impulse aus dem deutschsprachigen Theater geben; es engagiert sich auch direkt durch die jährliche Verleihung des Josef-Balvín-Preises für die beste tschechische Inszenierung eines ursprünglich deutschsprachigen Textes. Über den Gewinner entscheidet eine Jury aus Theaterkritiker*innen der Zeitschrift Divadelní noviny. Der diesjährige Preisträger Divadlo LETÍ präsentiert sich am 13. 11. in der VILA Štvanice. Als erstes tschechisches Theater hat Divadlo LETÍ ein Werk der preisgekrönten israelischen Autorin Sivan Ben Yishai inszeniert. Die Aufführung LIEBE/Eine argumentative Übung unter der Regie von Kasha Jandáčková ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert – sei es durch den offenen Umgang mit dem Thema weiblicher Sexualität in seinen intimsten körperlichen Ausdrucksformen oder durch die dreieinige Verkörperung der Protagonistin Olivia Öl durch Anna Kameníková, Karolína Vágnerová und Marie Kieslowski.
Am 16. und 17. 11. präsentiert das Berliner Ensemble im Theater Komödie die Inszenierung #Motherfuckinghood, eine Collage zu Arbeit und Sorgearbeit, Feminismus und Söhnen, Mutterschaft und Kunst. Das Erleben von Mutterschaft stimmt selten mit den Vorstellungen überein, die Kultur und Sprache darüber vermitteln. Diese ideale, selbstlos sorgende, unendlich geduldige und noch dazu glückliche Mutter – es gibt sie natürlich nicht... Ensemblemitglied Claude De Demo initiierte das Projekt, schlug es der Regisseurin Jorinde Dröse vor, und verkörpert auch alle mütterlichen Charaktere.
Am 23. 11. betritt Macbeth mit weiteren Figuren aus Shakespeares kürzester und blutigster Tragödie die Bühne des Theaters in den Weinbergen. Macbeth ist die neueste gemeinsame Arbeit zweier charismatischer Persönlichkeiten des Schauspielhauses Bochum – des Regisseurs Johan Simons und des Schauspielers Jens Harzer, an dessen Seite die talentierte Marina Galic glänzt. Auch wenn er in Blut badet, denkt Macbeth über seine Menschlichkeit nach und betrachtet seine Handlungen als Ausdruck eines größeren Gedankens: eines schwarzen Gedankens zwar, aber eines Gedankens. Er erinnert uns daran, dass der Mensch ein Tier mit Selbstreflexion ist. Macbeth ist der Mensch, der wir sein könnten, wenn jemand bei uns die falschen Knöpfe drückt. Schaudernd vor Macbeths Verbrechen schaudern wir vor uns selbst.
Bereits zum dritten Mal veranstaltet das Festival einen Open Call für junge Talente. Ziel ist die Förderung interessanter Projekte von Student*innen und Absolvent*innen deutschsprachiger Kunstschulen, denen das Festival einen geeigneten Rahmen zur Inszenierung und Propagierung ihres Werkes bietet. Aus insgesamt 39 eingereichten Produktionen wurde das Stück Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse als Gewinner ausgewählt. Das Autor*innenteam von der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin ließ sich von Franz Kafka inspirieren. Die preisgekrönte Inszenierung ist am 26. und 27. 11. im Theater DISK zu sehen.
Zentrales Thema der Arbeiten des schwedischen Künstlers und Regisseurs Markus Öhrn sind toxische Geschlechterrollen, Strukturen der Unterdrückung und das plötzliche Kippen alltäglicher Situationen in Endlosschleifen der Eskalation. Seine Adaption von Szenen einer Ehe im Volkstheater Wien (frei nach dem gleichnamigen Film von Ingmar Bergman) ist ein weiterer Beitrag zu diesem Thema, den das Festival am 2. und 3. 12. im Theater ARCHA+ zeigt.
Gleich darauf, am 4. und 5. 12., begrüßt das DOX+ im Prager Stadtteil Holešovice Gäste aus Berlin – die Schaubühne am Lehniner Platz. Für sein autofiktionales Stück The Silence geht der Autor und Theaterregisseur Falk Richter zurück in die eigene Familiengeschichte. Wie haben sich die Gräuel, die sein Vater im Krieg erlebte, in die Familiengeschichte und die Ehe der Eltern eingeschrieben, wie das Trauma der Vertreibung und Flucht der Mutter aus Westpreußen? Was wurde in der Familie jahrelang verschwiegen?
Das Prager Theaterfestival deutscher Sprache findet seinen Programmhöhepunkt am 7. 12. im Ständetheater mit einer wahrhaft außergewöhnlichen Veranstaltung – der Aufführung ja nichts ist ok. Es ist das letzte Werk des renommierten Regisseurs, Autors und künstlerischen Leiters der Volksbühne Berlin, René Pollesch, der das zeitgenössische Theater auf einzigartige Weise beeinflusst hat. René Pollesch ist plötzlich und unerwartet im Februar dieses Jahres verstorben. Einer seiner engsten Vertrauten war der Schauspieler und Co-Regisseur Fabian Hinrichs. Bitter und süß, gallig und großartig – so öffnen sich Pollesch und Hinrichs den Stimmungen unserer Zeit. Während an den Universitäten Stellvertreterkämpfe um den Nahen Osten stattfinden und Anfang dieses Jahres nach pro-palästinensischen Protesten eine Performance über Hannah Arendt am Hamburger Bahnhof abgebrochen wurde, stehen sie hier erschüttert in ihrem Vertrauen zur Welt, kämpfen um die Komödie, die ihnen stets Halt gegeben hat, und verweisen auf die letzten Scherben unserer Gewissheiten: „Vor 560 Millionen Jahren war die Welt noch gewaltfrei.“ Bei den „Gliederfüßlern“ nämlich. „Wie kann dieser Friedensprozess wiederbelebt werden?“
Das diesjährige Off-Programm des Prager Theaterfestivals erinnert unter anderem an den 100. Todestag von Franz Kafka. Am 20. 11. ist die Eliade-Bibliothek im Theater Am Geländer Schauplatz des Performance-Kabaretts Kafka has left the building, präsentiert von der Gruppe Das Thema / To téma, die Kafka hundert Jahre nach dessen Tod auf unvoreingenommene und eigene Weise „inszeniert“. Ebenfalls im Theater Am Geländer wird am 22. 11. Franz und die Dohle – „Ein Märchenkabarett für Intellektuelle ab 4 Jahren“ unter der Regie von Jiří Jelínek aufgeführt. Einem wesentlich ernsthafteren Thema widmet sich die Produktion Wandervogel von SixHouses – am 29. 11. im Theater Alfred ve dvoře. Die Inszenierung von Jan Mocek spielt im Jahr 1918, als die sudetendeutschen Deutschen sich in einem Staat wiederfinden, in dem sie nicht sein möchten. Ein originelles Projekt präsentieren der deutsche Autor Matthias Naumann und die tschechische Autorin Dagmar Fričová. Gemeinsam haben sie den Theatertext Ufer des Verschwindens verfasst, der nahezu zeitgleich in verschiedenen Inszenierungen in Berlin und Prag Premiere feiert. In Prag steht sowohl eine tschechische als auch eine deutsche Fassung auf dem Programm, und zwar am 13., 14. und 15. 11. im A studio Rubín.
Das Festival umfasst zudem weitere Begleitveranstaltungen – Workshops, Vorträge und szenische Projekte: das Performing Arts Management Symposium (PAMS), ein jährliches Symposium organisiert vom der Abteilung für Produktion der Theaterfakultät DAMU, behandelt aktuelle Themen aus dem Bereich des Managements darstellender Kunst und richtet sich an Studierende, Fachleute sowie an die breite Öffentlichkeit. Außerdem auf dem Programm stehen eine szenische Lesung des preisgekrönten Theatertextes Sieben Nächte mit Kafka-Thematik in der Maisel-Synagoge sowie der Swing Walk durch Prag mit Geschichten von Orten, an denen in der Zwischenkriegszeit Jazz und Swing gespielt wurde und wo sich tschechische, deutsche und jüdische Schicksale miteinander verbanden.