Sicher mögen einige LeserInnen beim Lesen der Überschrift zu diesem Text einen Artikel zum Thema "Zensur im Internet" erwartet haben und in der Tat wird dieser Text sich auf die unterschiedlichen Zensurformen beziehen, die zur Zeit sowohl die Freiheit des Wortes, als auch die demokratischen Grundwerte bedrohen, jedoch aber nicht so, wie es einige LeserInnen erwarten würden.
Als ich vom Tod des am 6. Juni 2015 verstorbenen tschechischen Schriftstellers Ludvík Vaculík erfuhr, fielen mir nicht zuerst seine zahlreichen - auch teilweise ins Deutsche übersetzten - literarischen Werke oder seine Kolumnen in der tschechischen Tageszeitung Lidové noviny ein, sondern sein "Manifest der 2000 Worte", das am 27. Juni 1968 gleich in mehreren tschechoslowakischen Blättern veröffentlicht wurde, nämlich in der Literární listy und in den Tageszeitungen Lidové noviny, Práce, Mladá fronta und Zemědělské noviny. Beim nochmaligen Lesen des Textes mit dem Abstand der heutigen Perspektive (Das ins Deutsche übersetzte Samizdat-Typoskript liegt auf der Homepage der Robert Havemann-Gesellschaft zum Download bereit.), erscheint der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen am 21. August desselben Jahres nahezu zwangsläufig und nicht zuletzt deswegen auch die Veröffentlichung entweder sehr mutig oder sehr naiv.
Auf 2000 Worte rollten hunderte Panzer
Ludvík Vaculík begann sein Manifest ohne Umschweife mit den Worten:
"Erst bedrohte der Krieg das Leben unserer Nation. Dann kamen weitere schlechte Zeiten mit Ereignissen, die ihre seelische Gesundheit und ihren Charakter bedrohten. [...] Die Kommunistische Partei, die nach dem Krieg das große Vertrauen der Menschen genoß, tauschte dieses Vertrauen gegen Ämter ein, bis sie alles bekam und nichts mehr hatte."
(Manifest der 2000 Worte, Typoskript, S. 1, 27. Juni 1968)
Das klingt ungeschminkt, klar, direkt und gegenüber der KPČ, aus der er übrigens zweimal ausgeschlossen wurde, schlichtweg frech. Doch Vaculík machte klar, dass keine Zeit mehr zu verlieren war, wenn man den "Erneuerungsprozess" der Tschechoslowakei noch retten wollte.
"Die Zeit, die anbricht, ist ein Sommer mit Ferien und Urlaub, in dem wir nach altem Brauch Lust haben werden, alles stehen und liegen zu lassen. Wetten wir jedoch, dass sich unsere lieben Gegner keine Sommerfrische gönnen werden, sie werden die ihnen verpflichteten Leute mobilisieren und sich schon jetzt ruhige Weihnachtsfeiertage verschaffen wollen. Passen wir darum auf, was geschehen wird, suchen wir es zu verstehen und zu antworten."
(Manifest der 2000 Worte, S. 3, 27. Juni 1968)
Was nach einer bösen Vorahnung klingt, konkretisierte Vaculík wenige Zeilen später mit den Worten:
"Große Beunruhigung geht in letzter Zeit von der Möglichkeit aus, daß ausländische Kräfte in unsere Entwicklung eingreifen könnten. Angesichts jeglicher Übermacht können wir einzig und allein anständig auf unseren Standpunkt beharren und mit niemandem Streit vom Zaune brechen. Unserer Regierung können wir zu Verstehen geben, daß wir notfalls mit der Waffe hinter ihr stehen werden, solange sie das tun wird, wofür wir ihr unser Mandat geben werden, und unseren Verbündeten können wir versichern, daß wir unsere Bündnis-, Freundschafts- und Wirtschaftsverträge einhalten werden."
(Manifest der 2000 Worte, S. 3, 27. Juni 1968)
Auch das klingt frech. Begibt sich doch Vaculík hier in eine Verhandlungsposition mit den Mächtigen seiner Zeit. Jeder, der sich auch nur ansatzweise mit dem realexistierenden Sozialismus auseinander gesetzt hat, weiß, welche inquisitorische Anklage auf Pamphlete wie dieses standen. "Konterrevolution" war das Schlagwort der Zeit. Wer sich nicht fügte, galt schnell als konterrevolutionär und so findet sich am Ende des Typoskripts auch ein anhängender offener Brief an deutsche Reisende aus der DDR mit den Worten:
"Nein, in unserem Land war und ist keine Konterrevolution! Es geht um unsere inneren Angelegenheiten, wir wollen dem Sozialismus das menschliche Gesicht wiedergeben, einen demokratischen Sozialismus aufbauen in Freundschaft mit allen, auch mit den sozialistischen Ländern."
(Anhang im selben Typoskript auf Seite 5, jedoch vom 21. August 1968)
Doch es war schon zu spät. Dieser Handzettel, aus dem die o. g. Zeilen stammen, wurde am 21. August 1968, dem Tag des Einmarsches der Warschauer-Pakt-Truppen - auch der Truppen der Nationalen Volksarmee der DDR - an deutsche Touristen verteilt. Auch wenn dazu heute die Angaben widersprüchlich sind, so bezieht sich das Zeitdokument doch deutlich auf die Beteiligung deutscher Truppen:
"An alle Bürger der Deutschen Demokratischen Republik an alle Touristen aus der DDR! [...] Die Truppen, unter denen sich auch Truppen aus der DDR befinden, machten schon von ihren Waffen gebrauch [sic]. In einigen Städten unserer Republik wurden schon Kinder, Frauen und Männer durch den Waffengebrauch der Interventionstruppen getötet. [...] Unsere Bevölkerung trägt es schwer, daß an der Okkupation auch Truppen aus der DDR teilnehmen, nur zu sehr erinnert diese Tat an die Jahre 1938 und 1939; damals waren es Truppen der faschistischen Wehrmacht, heute des Warschauer Paktes!"
(Ebd.)
Damit rollten deutsche Panzer ein zweites Mal nach 1945 wieder auf dem Boden der Tschechoslowakei.
"Von der Macht" - Alle Menschen sind gleich, doch die Schweine unter ihnen sind gleicher
Ludvík Vaculík fand stets deutliche Worte, nicht nur 1968, sondern auch schon ein Jahr zuvor, als er auf dem IV. Kongress des tschechischen Schriftstellerverbandes im Juni 1967 seine Rede mit dem Titel "Von der Macht" hielt. Der FAZ-Redakteur Reinhard Veser schreibt dazu:
"Bei den im Saal versammelten Schriftstellern rief Vaculíks Rede einen Schock hervor, obwohl sie seine Ansichten mehrheitlich teilten. Er hatte alle Tabus gebrochen, die er und seine Kollegen bislang beachtet hatten, um die wenigen Freiräume ihres Verbandes und ihrer Presse nicht zu gefährden. Seit dem Februar 1948 war die KPČ in der Öffentlichkeit nicht mehr so deutlich kritisiert worden."
[Veser, Reinhard: Der Prager Frühling 1968, Erfurt 2008, S. 34 (PDF-Ausgabe)]
Ludvík Vaculík erhielt 20 Jahre Berufsverbot
Foto: Mercy from Wikimedia Commons
Und dazu hatten sie (die versammelten Schriftsteller) allen Grund. (Auch dieses Redemanuskript ist heute auf der Homepage der Robert Havemann-Gesellschaft in deutscher Sprache abrufbar.) Man möchte meinen, dass Vaculík seine Rede nach der Lektüre des George Orwell Klassikers "1984" verfasst hat, also dem dystopischen Roman der wie kein anderes Werk ein antiutopisches Verhältnis von Staat und Volk, vom "großen Bruder" und dem Individuum gleichsam analytisch sezierte und nicht zuletzt zufällig im gleichen Jahr fertig gestellt wurde, als der KPČ nach dem sog. Februarsturz die endgültige Machtübernahme gelang, nämlich 1948 (daher auch der orwellsche Titel "1984") und bis 1954 zahlreiche Menschen in der ČSSR hingerichtet wurden.
Doch Vaculíks dritter Absatz erinnert eher an die 1945 erschienene Orwell-Parabel "Animal Farm":
"Es scheint, als habe die Macht ihre unzerstörbaren Entwicklungs- und Verhaltensgesetze, wer immer sie auch ausübe. Die Macht ist ein besonderes menschliches Phänomen, das sich dadurch stellt, daß schon in einem Haufen von Waldmenschen jemand befehlen muß und daß selbst in einer Gesellschaft lauter edlen Geistern jemand die Erkenntnisse der Diskussion zusammenfassen und formulieren muß, was nun zu geschehen hat. Die Macht ist eine spezifisch menschliche Situation. Sie erfaßt Herrschende und Beherrschte und bedroht die Gesundheit beider. Die tausendjährige Erfahrung mit der Macht führte die Menschheit dazu, sich zu bemühen, eine Art von Betriebsregeln festzulegen. Es ist dies jenes System der formalen Demokratie mit Rückbindungen, Kontrollschaltern und Limit-Terminen. In die klar aufgezeichneten Mechanismen der Regierung greifen jedoch die Interessen der mit roher Gewalt begabten ein, beruhend auf Kapitalbesitz, Waffenhaltung, einer günstigen Verwandtschaft, einem Produktionsmonopol usw."
(Von der Macht, Ludvík Vaculík 1967, PDF-Skript, S. 1)
Drei Jahre vor Hannah Arendts politikphilosophischer Analyse "Macht und Gewalt" (engl. Orig. "On Violence") hält Vaculík den Machthabern in der damaligen ČSSR den Spiegel vor. Gleichsam nach dem Slogan der "Animal Farm": "Alle Tiere sind gleich, doch die Schweine sind gleicher", erlaubt sich Vaculík auf das typisch Menschliche an der Macht hinzuweisen. Sie verdirbt und korrupiert all diejenigen, die von ihrem bittersüßen Nektar schlürften. Es ist eine zeitlose Analyse und deckt sich auch mit Beobachtungen, die sich in der bundesrepublikanischen Parteienlandschaft wiederfinden lassen und dabei meine ich nicht nur die großen, etablierten Parteien. Es mutet schon fast wie eine Orwell-Reminiszenz an, als es noch wenige Jahre zuvor die "Piraten" in Deutschland waren, die eine basisdemokratische Netzgemeinde im 21. Jahrhundert forderten und sich anschließend nach ihren anfänglichen Wahlerfolgen selbst zerfleischten, während ein jeder nach Pöstchen schielte, frei nach dem Motto: "Alle Tiere sind gleich, doch die Schweine sind gleicher."
Vielleicht hat Ludvík Vaculík Recht mit seiner Analyse vom "Haufen Waldmenschen", in dem es immer sowohl einen Häuptling als auch einen Stamm braucht, der sich willig befehligen lässt. Ich würde sogar noch einige zehntausend Jahre weiter zurückgehen und die Menschheit nicht mehr auf dem Niveau des Waldmenschen, sondern dem eines Neandertalers ansiedeln; einer wilden, ungezähmten Spezies auf einem unbedeutenden Planeten am Rande unserer Galaxys, die nur durch einen Zufall der Geschichte nach dem Feuer die Kernspaltung entdeckte und somit zu ihrem eigenen größten Feind wurde - der Mensch ist des Menschen Wolf - , weil ihre mentale Entwicklung nicht mit der technischen schritthalten konnte. Einfacher gesagt: Der heutige Homo Sapiens ist nichts weiter als ein Affe, der einen Atomreaktor als Faustkeil benutzt und sich dann wundert, wenn er damit seine eigene Spezies tötet, denn sein noch immer animalischer Machthunger geht über seine menschliche Verunftsbegabung hinaus und so "fraß die Revolution ihre Kinder".
Wider der Spaßgesellschaft
Hans-Jörg Schmidt zeichnete kürzlich in der "Welt" das Bild eines resignierten Ludvík Vaculík, der mit der Nachwendezeit nach 1989 nicht mehr zurechtkam, weil die jungen Tschechen weder Dubček kannten noch überhaupt einen Bezug zu den Prager 68ern hätten. Doch Vaculík irrte an jenem Tage, als er dem Welt-Reporter das Interview gab, das - wie wir heute wissen, sein letztes war. Während sein "Manifest der 2000 Worte" eine ganz konkrete Kritik an den Verhältnissen in der damaligen ČSSR ist, schuf er mit seinem Redemanuskript "Von der Macht" ein universelles und damit zeitloses Stück Literatur. Die Revolution ist weder zu Ende noch verloren - sie hat gerade erst begonnen. In einer Zeit der Globalisierung, des Neoliberalismus, der globalen Kapital- und auch Waffenmärkte sowie Flüchtlingsströme ist seine Rede vom Juni 1967 aktueller denn je zuvor. Millionen von Menschen mangelt es weltweit (aber auch in Europa) an einfachen Dingen, wie sauberem Trinkwasser, Bildung, medizinischer Versorgung und Zugriff auf neutrale Informationsquellen, denn der Informationsstrom des Internets wird an vielen Stellen der Welt gefiltert, nicht nur in China.
"Ich habe meine Ansicht über den Charakter, die Entwicklung und das Verhalten einer jeden Macht dargelegt, und ich habe mich bemüht, nachzuweisen, daß die Kontrollmechanismen, die der Staat dagegen hat, versagen, so daß der Bürger die Achtung vor sich selbst verliert."
(Von der Macht, Ludvík Vaculík 1967, PDF-Skript S. 4)
Wahr gesprochen! Wer sich nicht um die Politik kümmert, darf sich auch nicht beschweren, wenn die Politik sich um ihn kümmert. Vaculík konstatiert richtig, dass die Gesellschaft eine Kulturgemeinschaft ist und fordert folgerichtig:
"Wenn dieser Zustand weiter anhalten sollte [...] würde sich in der künftigen Generation eigentlich von selbst der Charakter unserer Völker ändern. Anstelle einer resistenten Kulturgemeinschaft würde eine Art leicht beherrschbare amorphe Bevölkerung entstehen, die zu beherrschen auch für Ausländer ein wahrer Genuß wäre. Wenn wir es dazu kommen ließen, hätten wir uns, glaube ich, nicht tausend Jahre dagegen auflehnen müssen."
(Von der Macht, Ludvík Vaculík 1967, PDF-Skript S. 4)
Nun muss ich resignierend zugeben, dass es schon längst dazu gekommen ist und damit meine ich nicht die Zeit von 1968 bis 1989. 1998 warnte der ehemalige Journalist der Frankfurter Rundschau Eckart Spoo in einem Interview, das er mir in Hannover gab, vor einer zunehmenden Monopolisierung der Medienlandschaft und antwortete auf die Frage nach der Gefahr einer zunehmend vereinheitlichten Berichterstattung in Deutschland, als auch vor der Ausdehnung deutscher Zeitungsverlage auf den mittel- und osteuropäischen Raum:
Eckart Spoo: "So ist es! Ja! Und das ist nicht nur in Tschechien so, das geht weiter über Polen - zum Beispiel auch bis nach Bulgarien und an das Schwarze Meer. Ich denke, dass das unter verschiedenen Gesichtspunkten sehr bedenklich ist. Was wird aus der Souveränität dieser Länder eigentlich, wenn die Meinungsbildung in der Hand ausländischer Medienkonzerne liegt? Welche politische Macht wird da ausgeübt? Aber wir sollten uns zunächst mal um die Verhältnisse im eigenen Land kümmern. Diese Pressekonzentration ist sehr, sehr weit vorangeschritten. Es sind in großen Teilen Deutschlands Pressemonopole entstanden. Ostdeutschland wurde über die Treuhand von westdeutschen Medienkonzernen absolut übernommen. Was bedeutet das für ein Land, das demokratisch sein will? Welche Struktur haben diese Monopole von innen? Wie weit wird da auch unmittelbar über Journalistinnen und Journalisten, die dort arbeiten, Macht ausgeübt? Das denke ich, ist ein wichtiges Thema, über das zu sprechen ist."
Und damit sind wir wieder bei dem Wort, das sich von Kafka, über Orwell und Vaculík bis Hannah Ahrendt immer wieder finden lässt: "Die Macht". Während Hannah Arendt ihre Analyse auf die Begriffe "Macht und Gewalt" bezieht (nicht reduziert!), würde ich nun vorschlagen, die heutige Welt kurz auf die Formel "Macht, Geld und Gewalt" bringen.
Im "Netz der Zensur"
Eckart Spoo hat vollkommen Recht, wenn er sagt, dass wir uns zunächst um die Verhältnisse im eigenen Land kümmern sollten. Denn blicke ich heute, wie auch morgen und übermorgen auf die bundesrepublikanische, aber auch europäische Presse, so habe ich ständig ein Déjà-vu der gleichen Schlagzeilen vor Augen. Es geht entweder um die "islamisch-terroristische" Bedrohung des Abendlandes, um "den Russen" vor der Tür Europas oder um Cyberattacken auf deutsche Unternehmen und Behörden, wobei mir die Panikmache vor "dem Russen" noch am "praktikabelsten", weil am konkretesten, erscheint, während sich die "islamisch-terroristische Bedrohung" oder auch "die Gefahr aus dem Internet" eher als gestaltlose Bedrohung in die diffusen Angstträume eines ganzen Volkes schleicht und jedem einzelnen die Freude am Leben und damit auch Lebensqualität raubt. Welch eine Frechheit ist das, ein Volk in Angst und Panik vor einer amorphen Bedrohung zu versetzen, nur um seinen eigenen Machtanspruch zu rechtfertigen oder neue Überwachungsgesetze zu erlassen, die diese Macht stützen? Dagegen ist das Feindbild des "kriegstreibenden, undemokratischen Russen" schon fast altbackend.
"Wo die Politik der Politiker kulturell ist [...] da braucht er [der Schriftsteller u. a.] nicht auf die Besonderheiten seiner Arbeit hinzuweisen, da braucht er keine Aversion bei den übrigen [...] hervorzurufen [...], [die] aber keine Mittel finden, ihre Gedanken durch das Netz der Zensur durchzusetzen [...]"
(Von der Macht, Ludvík Vaculík 1967, PDF-Skript S. 7)
Allein der Aufruf der Webseite "tagesschau.de" vermittelt mir beim Schreiben dieses Textes folgende Artikel: "IWF unterbricht Gespräche mit Athen", "Cyberattacken auf den Bundestag", "Illegales Filesharing" und "Vom Download bis zur Abmahnung". Was soll mir das als deutscher und auch europäischer Bürger sagen? Deutschland braucht ein neues Anti-Terrorgesetz oder vielleicht ganz Europa braucht ein deutsches Anti-Terrorgesetz? Ich weiß nicht, welche Prioritäten die tagesschau setzt, aber ich frage mich, warum ich auf der Startseite der tagesschau.de die Schlagzeilen "Illegales Filesharing" und "Vom Download bis zur Abmahnung" sehe, wenn gleichzeitig im Mittelmeer Hunderte (oder vielleicht sogar Tausende) von Menschen elendig absaufen, weil sie vor einem Krieg flüchten, der global gesehen schon längst nicht mehr einen lokalen Konflikt darstellt, während man in Berlin Milliarden für ein neues Raketenabwehrsystem ausgibt (und auf Schloss Elmau ebenfalls einen teuren G7 Gipfel "feiert") und ein Gesetz zur Terrorbekämpfung nach dem anderen durch den Bundestag peitscht. War George Orwell nicht ein Optimist? Folgerichtig fragt sich der Protagonist Winston in "1984", ob die in Ozeanien einschlagenden Raketen nicht von der Partei selbst abgeschossen wurden.
"Und ich will zu dem zurückkehren, was ich mir über den Charakter einer jeden Macht denke: daß sich ihre Entwicklung und ihr Verhalten nach eigenen inneren Gesetzen richten, an denen weder die an der Macht befindliche Person oder Klasse etwas ändern kann, denn das ist einfach eine Gesetzmäßigkeit des menschlichen Verhaltens in einer bestimmten Situation, nämlich an der Macht. – Das erste Gesetz einer jeden Macht ist, daß sie auch weiterhin bestehen will. Sie reproduziert sich in immer präziserer Gestalt. Zweitens homogenisiert sie sich ständig, sie reinigt sich von allen Fremdkörpern, bis jeder ihrer Teile ein Abbild der ganzen Macht ist, bis alle Teile untereinander austauschbar sind, so daß eine periphere Zelle der Macht praktisch das Zentrum ersetzen kann und auch die einzelnen peripheren Zellen durcheinander geworfen werden können. Ohne daß etwas passiert; der Apparat der Macht funktioniert einwandfrei, weil er im Grunde nicht auf eine Änderung des Milieus, der Meereshöhe, der Bevölkerungsstruktur oder auf irgend etwas anderes zu reagieren braucht, bzw. er soll stets auf das gleiche reagieren: dieses veränderte Milieu für sich präparieren, es gleichschalten, so daß es für das eine, ganz einfache Modell genügen kann. Die Macht verselbständigt sich also, was ihr weiteres gesetzmäßiges Verhalten ist, sie sucht bei nichts Unterstützung, sie stützt sich auf sich selbst, das Zentrum auf die Peripherie und umgekehrt, sie können sich aufeinander hundertprozentig verlassen, und sie müssen es auch, denn sie bilden einen Kreis. Man kann daraus niemanden herausschlagen, und auch er läßt niemanden frei. Interne Unstimmigkeiten und Verstöße werden ebenfalls intern liquidiert."
(Von der Macht, Ludvík Vaculík 1967, PDF-Skript S. 2)
Ich lasse diese Zeilen unkommentiert. Denn schon jetzt ist mir nicht ganz wohl an der Kritik, die ich hier übe. Und noch unwohler ist mir bei dem Gedanken, dass ich mich überhaupt unwohl bei der Kritik fühle. Warum eigentlich? Vor wem sollte ich Angst haben?
"Mir geschieht nichts, und mir ist auch nichts geschehen. So etwas tut man doch heute nicht mehr. Soll ich dafür dankbar sein? Ich mag nicht so recht. Ich habe Angst."
(Von der Macht, Ludvík Vaculík 1967, PDF-Skript, S. 6).
Warum nutze ich einen 48 Jahre alten Text zur Kritik an den heutigen Verhältnissen in einer globalisierten Welt? Vielleicht, weil sich die Verhältnisse in einer Welt, in der Leute wie Snowden, Assange und Chelsea Manning (auf unterschiedliche Weise) festsitzen, nicht einmal so sehr zum Positiven geändert haben? Vielleicht, weil ich denke, dass die bundesdeutsche Berichterstattung über Griechenland mittlerweile für die Erfüllung des Straftatbestandes der Volksverhetzung (§ 130 StGB der BRD) ausreicht? Vielleicht, weil ich Angst vor zivilrechtlicher Verfolgung habe, sobald ich eine .de-Domain anmelde und einen Link setze? Vielleicht, weil ich heute morgen auf swr.de gelesen habe, dass der neue Gesetzentwurf zur Vorratsdatenspeicherung (Stichwort: Datenhehlerei!) auch einen Passus enthält, der dazu dienen kann, Wishleblower, Blogger und Journalisten (in Deutschland!) zu inhaftieren, wenn sie aus internen Quellen zitieren? Vielleicht, weil ich schon Angst habe in Deutschland meine SimCard registrieren zu lassen oder überhaupt den heimischen Internetanschluss zu benutzen? Vielleicht, weil Vaculíks Rede "Von der Macht" vom Juni 1967, mehr noch als sein "Manifest der 2000 Worte", ein zeitloses Dokument über das Verhältnis von Macht, Geld und Gewalt geworden ist?! Ein größeres Erbe kann ein Schriftsteller seinem Volk nicht hinterlassen. Machen wir das Beste draus!
Konstantin Kountouroyanis, 13.06.2015
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