Als der Literaturhistoriker und Diplomat Eduard Goldstücker (1913–2000) in den 1960er Jahren auf der "Konferenz über die Prager deutsche Literatur" im tschechischen Liblice die "Prager deutsche Literatur" mit dem Erscheinen von Rilkes erstem Gedichtband 1894 (vgl. Manfred Weinberg, brücken 2012, S. 170) beginnen ließ, ahnte er wahrscheinlich nicht, welche langanhaltenden Missverständnisse diese Aussage bis zum heutigen Tag nach sich ziehen sollte. Fortan wurde die deutschsprachige Literatur in Böhmen und Mähren von Kulturjournalisten und zahlreichen bundesdeutschen Inlandsgermanisten auf das "Kerngebiet" Prag und die Autorenschaft Kafka, Werfel und Rilke reduziert. Prag, Böhmen und Mähren haben aber weitaus mehr hervorgebracht als lediglich drei - wenn auch ohne Zweifel bedeutende - Schriftsteller. Auf diesen Umstand wies bereits der Prager Germanist Kurt Krolop hin. Doch seine Kritik blieb lange Zeit ungehört. Im Gegenteil, nach der zwangsweisen Schließung der Arbeitsstelle für Prager deutsche Literatur an der Karls-Universität Prag und seiner Ausweisung aus der Tschechoslowakei in die DDR Ende der 60er Jahre, erhielt der heutige Professor für Literatur, wie viele andere kritische Geister seiner Zeit auch, quasi ein Berufsverbot. (Kurt Krolop wurde von seiner Heimatuniversität Halle entlassen, weil er sich während des Prager Frühlings „eines DDR-Bürgers unwürdig“ verhalten habe, wie aus einem Interview mit dem Schriftsteller und Literaturhistoriker Peter Becher hervorgeht. / vgl. Becher, Peter: Stifter Jahrbuch 2006, S. 194)
Foto: Kountouroyanis
Literarischer Stadt- und Landeskundeführer. In dem Haus (mit dem großen Eckerker) im Hintergrund starb Karl Brand 1917 jung und völlig unbekannt (Hausnummer 1 in der Mostecká nahe Malostranské náměstí in Prag).
Erst im neuen Jahrtausend konnten sich sowohl an der Prager Karls-Universität als auch an der Olmützer Palacky-Universität zwei neue Forschungsstellen etablieren. Während die Wissenschaftler an der Karls-Universität mit ihrer erst kürzlich neu gegründeten "Kurt Krolop-Forschungsstelle" den Fokus auf die Prager deutsche, aber auch deutsch-böhmische Literatur legen, arbeiten ihre Kollegen von der "Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur" an der Olmützer Palacky-Universität die deutschsprachige Literaturgeschichte in Mähren auf.
Eine Zusammenarbeit zwischen den beiden universitären Einrichtungen liegt daher aus verständlichen Gründen nahe, sodass am 19. Mai 2015 der Leiter der Prager Forschungsstelle Prof. Manfred Weinberg und der damalige Leiter der Olmützer Arbeitsstelle, Dr. Lukáš Motyčka, die jüngst erschienene bilinguale "Anthologie der deutschmährischen Literatur" innerhalb einer Vortragsreihe im "Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren" vorstellten. Die Anthologie ist gleich in mehrfacher Weise bemerkenswert. Die Olmützer Literaturwissenschaftler haben nach langer Recherche und mit finanzieller Unterstützung der Gemeinde Olomoucký Kraj und Stiftungen, wie u. a. des deutsch-tschechischen Zukunftsfonds, nicht nur zahlreiche Texte in Vergessenheit geratener Autoren mit wertvollen Hintergrundinformationen erneut publiziert, sondern auch ins Tschechische übersetzt. Damit wird diese Anthologie als deutsch-tschechischer Dualsprachband erstmals den Bemühungen der Autoren gerecht, die sich bereits vor 1938 und auch schon vor 1918 um eine Vermittlung zwischen der deutschen und der tschechischen Kultur bemühten, wie u. a. Max Brod, Franz Werfel, Rudolf Fuchs oder auch Friedrich Adler.
Foto: Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren / Mit freundlicher Genehmigung von Dr. phil. Barbora Šrámková.
Dr. Lukáš Motyčka und Prof. Manfred Weinberg im Gespräch
Während Prof. Manfred Weinberg am Veranstaltungsabend Texte aus dem deutschsprachigen Band vorlas, die im mährisch-schlesischen Dialekt geschrieben wurden, trug Dr. Motyčka die übersetzten Texte aus dem tschechischsprachigen Band vor und ließ somit den zahlreichen und oft zweisprachigen Zuhörern die Möglichkeit, sich von der Qualität der Übersetzungen selbst ein Bild zu machen.
Die Anthologie stellt neben den bislang eher weniger bekannten Autoren wie Jakob Julius David ("Halluzinationen"), Karl Brand ("Novelle im Traum"), Ernst Wolfgang Freißler ("Kitty") oder auch Paul Langmann ("Die Hummel") auch Texte bekannter Autoren vor, wie beispielsweise: Robert Musil ("Stilgeneration und Generationsstil"), Ernst Sommer ("Der Aufruhr"), Franz Spunda ("Der Sang aus der Tiefe"), Ernst Weiß ("Fragment der Kindheit - Fragment der Jugend") oder auch Ludwig Winder, über den übrigens der eingangs erwähnte Prof. Kurt Krolop 1967 promovierte, vor. (Die Doktorarbeit Kurt Krolops ist erst in diesem Jahr erschienen: Kurt Krolop: Ludwig Winder. Sein Leben und sein erzählerisches Frühwerk. Ein Beitrag zur Geschichte der Prager deutschen Literatur, hrsg. v. Jörg Krappmann/Jaromir Czmero, Olomouc/Olmütz 2015)
So könnte Karl Brand ausgesehen haben.
Dr. Lukáš Motyčka merkt an, dass die Zeichnung nach historischen Quellen und Berichten nachempfunden wurde.
Bildautorin: Jarmila Opletalová / Quelle: Archiv der Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur
Die Texte vergessener Autoren, wie z. B. der früh an Tuberkulose verstorbene Karl Brand, sind nicht nur für literarisch interessierte Liebhaber lesenswert, sie lassen auch oft einen neuen Blick auf die Prager deutsche Literatur zu und stellen die bekannteren Autoren und ihre Werke, wie Franz Werfel oder auch Franz Kafka in einem neuen Kontext dar. So hat Karl Brand neben der in der Anthologie neu veröffentlichten "Novelle im Traum" ebenfalls einen weiteren bemerkenswerten Text, nämlich die "Rückverwandlung des Gregor Samsa" geschrieben, der am 11. Juni 1916 im „Prager Tagblatt“ veröffentlicht wurde und an Kafkas Erzählung "Die Verwandlung", die 1912 entstand und erstmals im Oktober 1915 in der von René Schickele herausgegebenen Zeitschrift "Die weißen Blätter" erschien, anschließt. Die thematische Ähnlichkeit zwischen den beiden Texten führten auch den Hamburger Germanisten Hartmut Binder in seinen Forschungen (vgl. Binder, Hartmut: "Prager Profile. Vergessene Autoren im Schatten Kafkas", 1991, S. 260 - 264) zu der Vermutung, dass die gegenseitige Beeinflussung über die bloße Textebene hinausgegangen sein muss. Prüft man seine Forschungen und alle Quellen nach, kann man zu dem Schluss gelangen, dass Kafka in seiner "Verwandlung" womöglich die Familienverhältnisse Karl Brands und nicht die seiner eigenen Familie beschrieben hat. Wäre dies tatsächlich so, wären damit sämtliche Textanalysen, die auf den Vater-Sohn-Konflikt aufbauen hinfällig (vgl. den ausführlichen Bericht dazu: "Vom Mensch zum Käfer und zurück", Prager Zeitung, 16.07.2015, S. 18)
Dieses Beispiel zeigt, wie spannend und profitabel die Lektüre bislang vernachlässigter Autoren sein kann, die Zeitgenossen der drei literarischen "Galionsfiguren der Prager deutschen Literatur" Kafka, Werfel und Rilke waren.
Lukáš Motyčka/Barbora Veselá (Hrsg.): Anthologie der deutschmährischen Literatur / Antologie německé moravské literatury. Univerzita Palackeho Olomouc 2014, dt. Band 590 Seiten/tsch. Band 526 Seiten, ISBN: 978-80-244-4225-9
Konstantin Kountouroyanis, 28.07.2015
Artikellink: http://prag-aktuell.cz/blog/es-muss-nicht-immer-kafka-sein-28072015-12613