Peter Becher, geboren 1952, Studium der Germanistik und Geschichte, Promotion mit einer Arbeit über das Ende der Donaumonarchie, 1986 bis 2018 Geschäftsführer des Adalbert Stifter Vereins, seit 2019 Vorsitzender des Vereins, Autor von literaturgeschichtlichen Arbeiten, Erzählungen und Feuilletons, Mitglied des Tschechischen PEN.
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Ein Vortrag zum medialen Bild der Lenka Reinerová im Prager Literaturhaus
Ein Gedenkabend für die Journalistin, Schriftstellerin und Mahnerin, der vieles genommen wurde, nie aber ihr Lebensmut
Die Grande Dame der deutschsprachigen Literatur starb im Alter von 92 Jahren in Prag
Klamovka und Reinerová
Prager Stadtfeuilletons 2019
Mittwoch, 24. April. Im Slavia erzählt David Stecher, der Direktor des Prager Literaturhauses, nicht nur von den Zwetschkenknödeln, die wir einmal in fröhliche Runde verspeist haben, damals, als er Direktor des Tschechischen Zentrums in München war, sondern auch von dem Haus in der Plzeňská, in dem Lenka Reinerová gewohnt hat. Eine Gedenktafel erinnert an die Schriftstellerin und Mitbegründerin des Literaturhauses. Dorthin führt mein nächster Weg. Mehr als 50 Jahre wohnte Reinerová hier, von 1956 bis 2008, auf der anderen Straßenseite wirbt ein Plakat für die Aufführung von Beethovens 9. Symphonie am 13. November. Hinter dem Plakat beginnt der Klamovkapark, der zu einem Sokolgebäude hinaufführt, in dessen Kneipe wir vor ziemlich genau 25 Jahren, wie unglaublich das klingt: vor einem Viertel Jahrhundert am Vorabend des 1. Mai mit tschechischen und deutschen Schriftstellern zusammensaßen. Im Park brannten die Feuer der Hexen, in den Plastikbechern schäumte das Bier, und Jáchym Topol blickte ebenso berauscht in seine literarische Zukunft wie Bernhard Setzwein, hilfreich gestützt von dem Wirt des Lokals. Nur an Reinerová dachte an diesem Abend niemand, ich wusste nicht einmal, dass sie gleich gegenüber wohnte, dass wir nur an ihrer Tür hätten klingeln müssen. Damals wie heute sitzt ein roter Falke auf dem Dach des Sokolgebäudes und schaut zu uns herunter, auch die grüne Damen mit dem üppigem Busen blickt immer noch schnippisch nach den Gästen, nun von der sicheren Position über dem Ausschank des Bieres aus, über dem „výčep piva“, auch das Mobiliar ist sicherer geworden, neuer, weniger verkratzt und verbraucht. Im Garten sitzen junge Leute, trinken Bier und Aperolspritz. Auf einem Plakat warten fliegende Hexen mit ihren Besen auf den Beginn der Walpurgisnacht, um endlich wieder für wenige Stunden lebendig zu werden, wie damals vor 25 Jahren.
Auf dem Rückweg geht mir das Viertel Jahrhundert nicht aus dem Kopf. 25 Jahre. Wer zum Beispiel 1950 auf 25 Jahre zurückblickte, hatte die Erste Republik, das Münchner Abkommen, die Besetzung Prags, die Verfolgung der Juden, den Krieg, den Aufstand, die Vertreibung der Deutschen und die kommunistische Machtergreifung erlebt, alles in diesen 25 Jahren. Und was haben wir in den letzten 25 Jahren erlebt? Die deutsch-tschechische Deklaration, den EU-Beitritt Tschechiens, das Verschwinden der Grenzbeamten, das Verschwinden des tschechischen Speisewagens, den Sieg der tschechischen über die deutsche Fußballmannschaft bei der Europameisterschaftsqualifikation 2007, den Sieg der deutschen über die tschechische Mannschaft bei der Weltmeisterschaftsqualifikation 2016, jedes Mal mit 3:0 …
Wenn ich von heute 75 Jahre zurückdenke, dann sind wir mitten im Protektorat. Im Grieben-Reiseführer aus dem Jahr 1944 finde ich die Adressen damaliger Studenteneinrichtungen. Das „Studentenwerk Prag“ in der „Krakauer Gasse 16“, in der „Krakovská“, ist heute eine Polizeidienststelle der Tschechischen Republik, vor der silberne Polizeiautos mit der Aufschrift „pomáhat a chránit“ parken, „helfen und schützen“. Der „NS.-Studentenbund“ in der „Beethovenstraße 38“, in der „Opletalova“, nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt, befinden sich heute das Studentenheim „Jednota“ und eine Mensa der Karlsuniversität. Vier wuchtige Säulen weisen heute wie damals den Weg in das Gebäude. Ein tschechisches Studentenwerk ist in dem Reiseführer, der auch „tschechische Staatsämter“ verzeichnet, dagegen nicht verzeichnet. Die tschechischen Hochschulen waren bereits am 17. November 1939 geschlossen worden. Ob die Studenten, die heute so selbstverständlich in das Gebäude hineingehen, wissen, dass hier einmal der NS-Studentenbund untergebracht war? Und ob sie wissen, dass der Straßenname Opletalova an den tschechischen Studenten Jan Opletal erinnert, der damals bei einer Demonstration angeschossen und wenige Tage später an der Verletzung gestorben war?
Wie doch die Vergangenheit unter jedem Schritt und Tritt rumort und vibriert. Könnte, ja sollte man nicht ganz anders, viel unbeschwerter durch die Prager Gassen gehen, ganz auf die Gegenwart konzentriert, offen für ihre Reize und Verlockungen? Sieht nicht ein Jugendlicher, der in Hostels übernachtet und durch Diskotheken und Nachtclubs streift, die Stadt ganz anders als ein Fußballanhänger, der zu einem Spiel seines Clubs gegen Sparta oder Slavia nach Prag kommt, oder ein japanischer Tourist, der 24 Stunden Zeit hat, die wichtigsten Sehenswürdigkeiten zu fotografieren, oder ein Slavist, der sich im Literaturarchiv von Strahov zwei Wochen lang in den Nachlass von Vladimír Holan vertieft? Sehen und erleben sie die Stadt nicht alle ganz anders, jeder auf seine eigene, durch Bildung und Interessen gefilterte Wahrnehmung? Wäre es überhaupt möglich, vergangenheitsblind durch die Stadt zu laufen, obwohl so viele Wandtafeln, Denkmäler, Hausfassaden, Straßennamen, Theatergebäude und Museen ununterbrochen von der Vergangenheit erzählen? Wäre es möglich, gegenwartsblind durch die Stadt zu ziehen, obwohl so viele hübsche Gesichter, glitzernde Auslagen, appetitanregende Wirtshaustafeln, schummrige Nachtbars und heiße Rhythmen zum Eintritt und Geldausgeben animieren? Was ist eigentlich schwerer, den vielfältigen Chor der Vergangenheit zu überhören oder das dröhnende Rauschen und Brummen der Gegenwart?