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prag aktuellprag aktuell | Rubrik: Kultur | 14.7.2021
Neueinspielungen handschriftlicher mittelalterlicher Fundstücke aus tschechischen Archiven - eine Übersicht / Von Michael Magercord

Prag - In schöner Regelmäßigkeit werden in tschechischen Archiven mittelalterliche Handschriften gesichtet, oftmals Notenblätter von Liedern oder klösterlichen Chorwerken. Und ebenso regelmäßig erscheinen Neueinspielungen der Fundstücke – eine Übersicht.

Mittelalterliche Handschriften stammen aus einer fernen Welt, trotzdem senden sie ihre Signale in die Gegenwart. Ob sie in Mönchsklausen entstanden waren oder fürstlichen Schreibstuben, diese Manuskripte sind greifbare Dokumente ihrer Zeit und des regen geistigen Lebens an den Orten ihrer Entstehung. Und nicht zuletzt sollen sie viele Jahrhunderte später noch beweisen, auf welch tiefen Fundamenten die gegenwärtige Gesellschaft ruht.

In der tschechischen Geschichtsschreibung spielen die Funde von mittelalterlichen Schriftwerken eine besonders große Rolle. Vor allem in der Zeit der nationalen Erweckung im 19. Jahrhundert dienten sie als Zeugnis der Jahrhunderte alten tschechischen Kultur. Um schlagkräftige Beweise für ihre Geschichte zu liefern, waren diese Dokumente so wichtig, dass sie sogar gefälscht wurden. Bekannteste Beispiele sind die Königinhofer und die Grünberger Handschrift.

1817 „entdeckte“ der junge Slawist Václav Hanka in Dvůr Králové nad Labem / Königinhof eine Sammlung von Pergamentblättern aus dem Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts. Darauf fanden sich Gesänge und Lieder über das Heldentum der alten Tschechen im Kampf gegen ihre Feinde, die umgehend von Jan Tomášek neu vertont wurden. Noch bis 1886 galten sie als eines der ältesten Werke der tschechischen Nationalliteratur und dienten als Beweis, dass Tschechisch eine eigenständige Schriftsprache sei. Heute scheint klar: es war eine Fälschung. Unstrittig als Nachahmung wurde die ebenfalls 1817 vorgestellte Grünberger Handschrift entlarvt. Ihr Inhalt und ihre angebliche Datierung lag einfach zu weit zurück, handelte sie doch von der vorchristlichen Mythologie über die Fürstin Libussa.

Aber natürlich sind nicht alle Fundstücke gefälscht, selbst wenn man in den Zeiten ihrer Entdeckung Zweifel an ihrer Echtheit hegte. Das Alexander-Lied aus dem 13. Jahrhundert und die Chronica Boemorum von Cosmas aus dem 12. Jahrhundert sind heute weitgehend anerkannte Belege für die lange zurückreichende literarische Tradition der Tschechen. Trotzdem werden die Manuskripte immer wieder chemisch untersucht. Zu bedeutend für das tschechische Selbstverständnis scheinen diese Zeugnisse immer noch zu sein, als dass man sich dem geringsten Verdacht, Fälschungen aufgesessen zu sein, ausgesetzt sehen möchte. Für den tschechischen Mediävist Dalibor Dobiáš ist im Rückblick auf die kulturelle Erweckung im 19. Jahrhundert klar: „Unsere Geschichte wäre ohne die Handschriften ganz anders verlaufen“.

Unter den Manuskripten finden sich viele Niederschriften von Liedern und Chorwerken. Und wenn der Blick zurück schon so wichtig ist, dann liegt es nahe, die Musik der Epoche nun wiederzubeleben. Vor zwei Jahrzehnten bereits hat das Label Studio Matouš (http://www.matous.cz/stredoveka-hudba) eine Sammlung mit 2 CDs mit Liedern und Instrumentalmusik aus dem Hochmittelalter vorgelegt. Das Ensemble Ars Cameralis um den Musikhistoriker Lukaš Matoušek hat populäre polyfonische Werke aus der Karlsuniversität eingespielt, die von Studenten und Gelehrten gepflegt wurden. Eine weitere CD führt uns ins böhmische Weihnachtsfest der Spätgotik, darunter Kompositionen, die sich in der Handschrift des Codex Speciálník, der um das Jahr 1500 entstanden war, fanden.

Vor zwei Jahren dann knüpfte die Cappella Mariana unter der Leitung von Vojtěch Semerád mit ihrer von der Kritik hochgelobten CD “Praga Rosa Bohemiae” daran an. Diese Sammlung von Musik der Renaissance beginnt mit Stücken aus dem Codex Speciálník und spannt den Bogen in das Prag des Kaisers Rudolf. Böhmens Hauptstadt war ein kultureller Schmelztiegel, in dem die unterschiedlichsten Musikstile zur Geltung kamen, von italienisch inspirierter Polyfony bis zur franko-flämischen Stabat Mater von Josquin Desprez, deren einzige originale Aufzeichnung sich in der Musiksammlung der Literarischen Brüderschaft von Rokycany erhalten hat.

Ein Klangkörper, der sich besonders um die Wiederbelebung des musikalischen Erbes des Mittelalters verdient macht, ist das Tiburtina Ensemble und seine musikalische Direktorin Barbora Kabátková. 2011 sangen die elf Frauen drei Chorwerke über die christlichen Märtyrinnen Katharina, Barbara und Margarete auf ihrer ersten CD „Flos inter spinas”, Blüten unter Dornen. Die Motetten wurden im Spätmittelalter im benediktinischen Konvent von St. Georg auf der Prager Burg oft gesungen und haben sich im Bamberger Codex wieder auffinden lassen.

Zwei Jahre später wagten die Sängerinnen ein außerordentliches Projekt: Apokalypsis (http://www.omm.de/cds/etc/apokalypsis.html). Für das innovative Prager Jazz-Label Animalmusic entstand diese Crossover-Produktion mit dem Gitarristen DD und Saxophonisten XX. Grundlage ist der Codex Las Huelgas, eine Handschrift aus dem Nonnenkloster Santa Maria im spanischen Burgos. Die Tiburtinerinnen singen die polyfonen, über 600 Jahre alten und doch so frischen Kompositionen, die Jazzformation steuert dunkle Basstrommeln, Saxophonklänge und melancholische Gitarrenimprovisationen bei. Konnte das gut gehen? Ja, und wie!

Jetzt folgte im Juni die neue CD der mutigen Frauen, die zurückkehren zur böhmischen Liturgie aus dem frühen 15. Jahrhundert. Das handgeschriebene “Jistebnicer Hymnenbuch” enthält tschechische Texte, die aus dem Lateinischen übersetzt wurden, genauso wie originale tschechische Hymen aus der Zeit um 1430. Es ist die größte und wichtigste Quelle der hussitischen Liturgie und des profanen Gesangs in Böhmen, die heute im Prager Nationalmuseum verwahrt wird. 1872 hatte es der Student Leopold Katz im Presbyterium des südböhmischen Dorfes Jistebnice entdeckt. Kurz darauf fanden einige Melodien daraus Eingang in die symphonischen Gedichte “Tábor” und “Blaník” aus dem Zyklus “Mein Vaterland” von Bedřich Smetana.

Die allerneuste CD, die mittelalterliche Musik präsentiert, schließt quasi daran an und geht doch zumindest im musikalischen Stil weiter zurück. Die international renommierte Schola Gregoriana Pragensis bringt die Zeitspanne unmittelbar vor und nach den Hussitenkriegen zum Klingen. War zuvor die gregorianische Musik das Maß der Dinge, so versuchten danach die alten Institutionen der Kirche und Gelehrsamkeit mithilfe von gregorianischen Chorgesängen wieder an die glorreiche Zeit vor den Aufständen anzuknüpfen. Sie ließen ihre Mönche und Studenten die liturgischen Werke singen und hofften, damit auch ihre aufmüpfigen Gedanken in die alten Bahnen zu lenken.

Ob das gelang? Zeitgenössischen Berichten zufolge eher nicht, die Studenten gaben sich der flotten Volksmusik hin und frönten des verbotenen Tanzes. Politisch und religiös blieb Böhmen geteilt und unruhig, erst nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde es ein fester Bestandteil des katholischen Habsburger Reiches. Im 19. Jahrhundert gewann die Musik des Mittelalters und ihre handschriftlichen Aufzeichnungen im Zuge der nationalen Erweckung wieder an neuer Bedeutung. In unseren beschleunigten Zeiten wiederum mag die Wiederbelebung der Musik des Mittelalters und ihrer spirituellen Tragweite wohl eher der Muße und Erquickung der gestressten Seelen dienen – was beileibe nicht das Schlechteste ist. (mm)

 

Angaben zu den drei jüngsten Neuerscheinungen:

  • Cappella Mariana, Vojtěch Semerád: Praga Rosa Bohemiae - Musik der Renaissance aus Prag

2019 - SU 4273-2

https://www.supraphon.com/album/497394-praga-rosa-bohemiae-music-in-rena...

 

  • Tiburtina Ensemble: Jistebnický kancionál

April 2021 - SU 4291-2

https://www.supraphon.com/album/618480-jistebnicky-kancional

  • Schola Gregoriana Pragensis: Septem dies

Juni 2021 - SU 4282-2

https://www.supraphon.com/album/627977-septem-dies-music-at-prague-unive...

 

Weitere Informationen und Hörbeispiele unter: www.supraphon.com

Weitere Infos: www.supraphon.com Themen: Musikkritik, alte Musik
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