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Tschechien OnlineTschechien Online | Rubrik: Gesellschaft | 14.8.2005
CzechTek: Jugendkultur, Internet und politischer Protest

Prag - Vor dem letzten Juli-Wochenende deutete wenig darauf hin, dass das diesjährige CzechTek, eine Party von Anhängern vor allem des Freetechno, sehr viel anders ablaufen würde als in den Jahren zuvor - und das auch medial.

"Also mit dem Erschaudern vor den Beschreibungen des Aussehens und der Gewohnheiten der jungen ‚Tänzer‘, vor dem Gezeter der alten Ortsansässigen, vor den mit Abfällen verwüsteten Wiesen und schließlich mit den Beschimpfungen der unfähigen Polizei", wie die in Prag erscheinende Tageszeitung Lidové noviny sich wunderte.

Doch das war wenige Tage nachdem das Festival unter Einsatz eines massiven Polizeiaufgebots mit Wasserwerfern und Tränengas blutig beendet worden war.

Zwischen Information, Desinformation, Dokumentation und Agitation

Tatsächlich beherrscht aber CzechTek weiter die innenpolitische Diskussion in Tschechien. Premier Paroubek musste seinen Sommerurlaub in Österreich Hals über Kopf abbrechen. Innenminister Bublan ist weiter unter Druck, Staatspräsident Klaus rät ihm zu einer öffentlichen Entschuldigung.

Und im ganzen Land gehen noch immer regelmäßig mehrere Tausend überwiegend junge Menschen auf die Straße und fordern Aufklärung über die Verantwortlichkeiten beim Polizeieinsatz und den politischen Hintergrund der Geschehnisse. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Internet.

CzechTek 2005 - Was mit dem rituellen Katz-und-Maus-Spiel zwischen Organisatoren und der Polizei einerseits und dem medialen Rätselraten um den tatsächlichen Austragungsort der nicht angemeldeten Veranstaltung anderseits begonnen hatte, geriet nach dem massiven Polizeieinsatz schnell zu einem Politikum mit internationalem Medienecho. Dass es so weit kommen konnte, ist jedoch nicht allein mit den über hundert verletzten Partyteilnehmern und Polizisten zu erklären.

Denn schließlich, wie Schlagersänger Karel Gott gegenüber der Tageszeitung Mladá fronta Dnes dazu lakonisch meinte, seien Polizeieinsätze „anderswo in der Welt noch härter“. Mit dieser Meinung steht er wohl nicht allein und es scheint, als hätte auch mancher der politisch Verantwortlichen so kalkuliert.

Doch sollte Premier Paroubek tatsächlich darauf spekuliert haben, als „Premier der harten Hand“ politisch zu punkten, so dürfte dieses Kalkül misslungen sein, wie aktuelle Meinungsumfragen zeigen. Die vielen Bilder und Videodokumente des blutigen Polizeieinsatzes schockieren auch die Normalbürger, denen "Recht und Ordnung" ein wichtiges Gut und keine Parole sind und denen die Jugendkultur der Technoszene ebenso fremd und suspekt ist wie die Musik selbst.

Policejnistat.cz

Bei dem großen Medienecho handelt es sich jedoch keineswegs um eine inszenierte Kampagne der parlamentarischen Opposition oder der großen Medien, wie einige Regierungsvertreter glauben machen wollen. Zwar stiegen die etablierten Medien in der Saure-Gurkenzeit allesamt dankbar auf das Thema CzechTek ein, mit Sondersendungen und Extra-Beilagen, doch fingen sie damit eher Informationsströme auf, die zunächst an ihnen vorbeiliefen.

Vielmehr sind das Medienecho und die Proteste ein Beispiel für eine veränderte Protest- und Informationskultur in Zeiten von Internet, Mobiltelefonen und allgegenwärtigen digitalen Fotoapparaten und Videokameras.

Eine zentrale Rolle spielt bei den Informationen um CzechTek die Internetplattform Policejnistat.cz. Eine Internetdomain, wohlgemerkt, die vor dem Festival CzechTek zwar registriert, aber ohne jeden Inhalt war und erst Samstag, als die Gewalt im westböhmischen Mlýnec eskalierte, von dem Teilnehmer eines Internetforums zur freien Verfügung angeboten wurde - zunächst nur als Plattform für einen ersten Demonstrationsaufruf.

Von der Initialzündung des Demonstrationsaufrufs schaffte es Policejnistat.cz innerhalb weniger Tage zu einer der meistbesuchten Webseiten im tschechischen Internet - mit einer Fülle an Materialien, Links und Dokumenten rund um den Polizeieinsatz und die Protestkundgebungen. Bemerkenswert dabei ist nicht nur die Geschwindigkeit, mit der eine recht professionell gemachte Seite quasi über Nacht aus dem Boden gestampft und mit Inhalt und Leben gefüllt wurde.

Denn den Initiatoren ist es sogar gelungen, der tschechischen Regierung das Gesetz des Handels aus der Hand zu nehmen und selbst die politische Agenda zu bestimmen. Zu deutlich konnten sie Widersprüche und Ungereimtheiten in der Begründung, Zielsetzung und Durchführung des Polizeiensatzes belegen.

Als politische Ruhestörung von "gefährlich besessenen Leuten, mit anarchistischen Neigungen" und von "international vernetzten Gewalttätern" war dies nicht mehr abzutun. Als solche hatte Premier Paroubek den "Kern der Technoanhänger" in einem Gastbeitrag für die Tageszeitung Lidové noviny nach dem Einsatz bezeichnet.

Immerhin kämpfen die Organisatoren der Proteste dabei medial an gegen die professionellen Informations- und Presseabteilungen der Polizei, des Innenministeriums und des Regierungsamtes mit hochgerüsteten Stäben von bezahlten Mitarbeitern, deren Interessenlage sich verständlicherweise von denen der Gegner des Polizeieinsatzes deutlich unterscheidet.

Inzwischen ist Policejnistat.cz zur zentralen Plattform und Anlaufstelle der Proteste geworden und die Initiatoren selbst sind gefragte Gesprächspartner der Medien. Auch vom ehemaligen Staatspräsidenten Václav Havel, der als Vermittler zwischen den Gegnern de Polizeieinsatzes und der Regierung ins Spiel gebracht wurde, wurden sie zu einem Gespräch empfangen.

Neben aktuellen Nachrichten zu den Ereignissen um CzechTek und den Forderungen der Initiative an die Polizei und die Regierung, einer Protestpetition sowie Aufrufen zu weiteren Protestveranstaltungen enthält Policejnistat.cz inzwischen eine beachtliche Zahl an Dokumenten, Links, Fotos, Videos, Rundfunkinterviews.

In einem Serviceteil gibt es Informationen für Rechtshilfe, Ratschläge für Opfer des Polizeieinsatzes, Muster für eine Strafanzeige und sogar ein virtuelles Fundbüro für Gegenstände, die bei CzechTek oder den Demonstrationen abhanden gekommen oder gefunden worden sind. Viele Informationen stehen dabei auch auf Englisch zur Verfügung und Webmaster haben die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Protestbannern zu wählen, um sie auf ihren Seiten anzubringen.

Protestsongs

Unterstützung erhielten die Teilnehmer der Proteskundgebungen von einigen Prominenten. Wohlwollend distanziert, in staatsmännischer Zurückhaltung, von Ex-Präsident Václav Havel, der an einer Demonstration teilgenommen hatte und an eine weitere ein kurzes schrifltiches Grußwort richtete.

Von anderen deutlicher, wie von dem Musiker Michael Kocáb und der Schriftstellerin und beleibten Fernsehmoderatorin Halina Pawlowská, die ebenfalls an Protestdemonstrationen teilnahmen.

Kocáb hatte bereits wenige Tage nach CzechTek auf einer Demonstration die Petition gegen den Polizeieinsatz unterschrieben und den Einsatz dabei als eine "Schweinerei, die kommunistische Einsätze kopiert" bezeichnet.

Einige Musiker griffen auch schlicht zur Klampfe, um ihren Protest gegen die Polizeigewalt kundzutun.

Der mährische Liedermacherveteran Jaromír Nohavica reagierte auf die Polizeigewalt bei CzechTek mit dem Song Už zase bijou dětí (Schon wieder verprügeln sie Kinder).

Nohavica stellt in dem mit Pathos überladenen Song Analogien zwischen den jüngsten Ereignissen bei CzechTek und der brutalen Niederknüppelung einer Studentendemonstration im November 1989 durch die Ordnungskräfte des totalitären kommunistischen Regimes her, die damals zum Auslöser für die Samtene Revolution wurde.

Wesentlich spritziger geht es bei der Punk-Band Skřehule in ihrem Song CzechTek zur Sache. In klassischer Fun-Punk-Tradition mit schnellen Gitarrenriffs wird erwartungsfroh die imaginäre Fahrt zur Party CzechTek beschrieben - mit einem "Soundsystem auf einem Lkw voller Drogen" und "Mädels mit Dreadlocks, die sich hinterm Steuer abwechseln und uns allen zusammen gehören".

Nach furioser Anfahrt und erstem spacigem Höhepunkt folgt ein sonderbares Slowdown. Als retardierendes Moment dient ein Zitat aus dem Velvet Underground Song "Heroin": I don‘t know just where I‘m going... Doch klar, den Spaß verdirbt am Ende dann eben doch die Polizei. Der sind dafür dann das entsprechend wütende Ende des Songs und die verbalen Sturmgeschütze gewidmet.

Für den Hörer eventuell beruhigend, dass es sich da wohl doch nicht um Kinder im eigentlichen Sinne gehandelt hat, die beim CzechTek von der geballten Staatsmacht verdroschen wurden.

Die Industrial Hip-Hop Band Roxor komponierte ein Stück mit dem Titel ParouBack. Ein Wortspiel mit dem Namen des tschechischen Premiers und dem Wort para (Dampf). Mit einer klaren Botschaft zwar - Mit Volldampf zurück! - aber insgesamt bei jugendlichem Alter der Macher doch eher auf Wortkrücken daherhumpelnd.

In einem weiteren Song mit dem Titel Náš stát (Unser Staat) beklagt die Sängerin Romana politisch überkorrekt, dass die Polizisten bei CzechTek auf „unschuldige Menschen“ eingeprügelt hätten, die nur ein "bisschen Freiheit" genießen und sich vergnügen wollten. Dabei hätten sie ihren eigenen Verstand ausgeschaltet und nur das getan, was ihnen die Regierung aufgetragen habe, der es nicht gefalle, wenn junge Menschen friedlich und ohne Kommerz zusammen feierten.

Textlich die tschechische Weiterentwicklung von Ralph Siegels Grand Prix-Erfolg "Ein bisschen Frieden" mit Juliane Werding zum naiven Protestsong. Gut geeignet, um beim Weltjugendtag in Köln bei einem ökumenischen Gedenkgottesdienst oder abends beim romantischen Lagerfeuer angestimmt zu werden. (nk)

Themen: CzechTek 2005
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