Im Juli 1989 ahnte Thomas Bartsch, damals 23 Jahre alt und Bürger der DDR, nicht, daß der Eiserne Vorhang in wenigen Monaten fallen würde. Und weil er in den Westen wollte, versuchte er, die tschechoslowakischösterreichische Grenze zu überqueren.
Die tschechoslowakischen Grenzsoldaten eröffneten jedoch das Feuer auf ihn und trafen ihn am rechten Knie. Thomas Bartsch verlor das Bewußtsein und kam erst in einem Krankenhaus in Pilsen wieder zu sich. Eine Woche lang wurde er in der Tschechoslowakei festgehalten und dann an die ostdeutschen Sicherheitsbehörden (Stasi) übergeben. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis studierte Thomas Bartsch Zahnmedizin und eröffnete eine Privatpraxis im oberfränkischen Schwarzenbach an der Saale. Trotz mehrerer Operationen konnte die Funktion des Knies jedoch nicht wiederhergestellt werden.
Nach 30 Jahren erfuhr Thomas Bartsch über die „Plattform für Europäische Erinnerung und Gewissen“, daß er in der Tschechischen Republik einen Antrag auf gerichtliche Rehabilitierung stellen kann. Er reichte daher einen Antrag beim Bezirksgericht in Taus/Domažlice in der westböhmischen Pilsener Region ein, dem stattgegeben wurde. Der Vorsitzende des Senats räumte ein, daß Thomas Bartsch ungerechtfertigt verfolgt worden sei, weil er versucht habe, die Tschechoslowakei zu verlassen. Das Justizministerium zahlte Thomas Bartsch daraufhin eine Entschädigung von 1027 Kronen für die unrechtmäßige Einschränkung seiner persönlichen Freiheit. Was die gesundheitliche Beeinträchtigung angeht, so überließen die Beamten des Ministeriums die Entscheidung darüber dem Gericht. Der Richter des Bezirksgerichts Prag 2 sprach Thomas Bartsch 5550 Kronen für seine gesundheitlichen Schäden zu. Er entschied aber auch, daß Bartsch 1200 Kronen Gerichtskosten an das Justizministerium zahlen müsse.
Bartsch legte Einspruch ein. Der Senat des Prager Stadtgerichts gewährte keine Erhöhung, räumte aber ein, daß es ungerecht wäre, bei einer so geringen Entschädigung dem Ministerium die Prozeßkosten zahlen zu müssen. Bartsch hielt die Entschädigung von 5550 Kronen für seine lebenslange Behinderung jedoch für Hohn und klagte vor dem Verfassungsgericht. Das tschechische Verfassungsgericht in Brünn traf Mitte Januar folgende Entscheidung: Das Verfassungsgericht unterstütze den Deutschen Thomas Bartsch, dem beim Versuch, den Eisernen Vorhang zu überqueren, tschechoslowakische Grenzsoldaten ins Knie geschossen hätten.
Die tschechischen Gerichte hätten ihm nur 5550 Kronen als Entschädigung für seine Verletzungen zugesprochen, das müsse noch einmal verhandelt werden. Nun werden sich die Gerichte erneut mit der Frage der angemessenen Entschädigung befassen müssen. Bartsch, der dauerhafte gesundheitliche Probleme hat, hält den Betrag für unverhältnismäßig niedrig.
„Das Verfassungsgericht hat festgestellt, daß die Gerichte einen unverhältnismäßig niedrigen finanziellen Ausgleich gewählt haben. Sie hatten ihre Entscheidung auf eine Verordnung über Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten gestützt. Dieser Fall hätte viel sensibler bewertet werden müssen und die außergewöhnlichen Umstände hätten berücksichtigt werden müssen“, sagte Richter Vojtěch Šimíček. Nach Ansicht des Verfassungsgerichts sind es die außergewöhnlichen Umstände, die eine Erhöhung des Schmerzensgeldes im Vergleich zu den nach dem damaligen Erlaß zuerkannten Punkten erlauben. Auch Rechtsanwalt Lubomír Müller bezeichnete den ursprünglichen Betrag angesichts der lebenslangen körperlichen Verstümmelung von Bartsch als Hohn.
„Die Entschädigung ist nicht als Verhöhnung gedacht, sondern als Genugtuung“, sagte Müller. Er schlug das Fünffache vor, also 27 750 Kronen. Selbst dann wäre der Betrag immer noch weit unter den Summen, die gegenwärtig für Verletzungen mit Dauerfolgen gewährt würden. Die Justiz müsse sich an den Regeln der jeweiligen Zeit orientieren. Sie könne den Betrag jedoch bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände erhöhen.
Šimíček wies auch auf die psychischen Auswirkungen des Ereignisses hin. Seiner Meinung nach konnte Bartsch nicht wissen, daß der kommunistische Totalitarismus kurz vor dem Zusammenbruch gestanden habe und ihm keine weiteren Repressionen drohen würden. „Niemand konnte wissen, daß in wenigen Monaten die Berliner Mauer fallen würde“, sagte er. Nach der Entscheidung der Verfassungsrichter wird der Fall an das erstinstanzliche Gericht zurückverwiesen. „Es wird den Amtsgerichten obliegen, nach dieser Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs ihre früheren Tatsachenfeststellungen und die bereits getroffenen rechtlichen Schlußfolgerungen weiterzuverfolgen und erneut zu versuchen, einen angemessenen Entschädigungsbetrag zu finden, der dem Beschwerdeführer im Rahmen des Gerichtsverfahrens zugesprochen werden kann“, heißt es in dem Urteil.
Dies war ein Verstoß gegen den internationalen Vertrag über bürgerliche Rechte. In Europa gilt die Menschenrechtskonvention, und die schließt Folter aus.