Ignaz Klinger gründete 1862 die Wollwarenfabrik in Neustadtl, das ab 1901 Neustadt an der Tafelfichte hieß. Sie wurde zu einem der größten Industrieunternehmen in Österreich-Ungarn. Großen Anteil daran hatten auch seine Söhne Oskar und Ottomar, die 1901 die mechanische Tuch und Modewarenfabrik in Kratzau errichteten. Der aus Dittersbach bei Friedland stammende Chef und Firmeninhaber Ignaz Klinger (*8. Juni 1814, †25. Juni 1872) hatte mit persönlicher Bescheidenheit ein Fabrikunternehmen gegründet, das Neustadtls Gestalt veränderte.
Am Ende des 19.Jahrhunderts machte Ignaz Klinger die Stadt weltbekannt. Das boomende Unternehmen mit den großartigen Fabrikanlagen, die Baumwoll- und Schafwollwaren erzeugte, war seinerzeit Neustadtls größter Stolz. Klinger entstammte einer alten Weberfamilie, die ursprünglich in der Rumburger Gegend ein Leinwebereigeschäft betrieb, das später mit einer Zweigniederlassung in Dittersbach auch auf den Bezirk Friedland ausgedehnt wurde.
1839 ließ er sich in Neustadtl nieder, wo er eine Wollwarenfabrik baute, die mit den Jahren zu einem der größten Industrieunternehmen heranwuchs. Seit einigen Jahren schon stehen die Gebäude der Klinger-Fabrik in der Friedländer Straße 365 leer. Jetzt wurde der riesige und historische Firmenkomplex abgerissen. Alles versank unter einer dicken Staubwolke, nur ein riesiger Haufen Schutt blieb übrig. Die meisten Gebäude waren vor dem Abriss geplündert worden; was man nicht stehlen konnte, wurde zerstört. Die Diebe versuchten, an vielen Stellen in die Gebäude zu kommen. Die meisten Fenster wurden zerschlagen, die Türen aufgebrochen. Heute würde kaum jemand glauben, daß neben den Firmengebäuden ein schöner und gepflegter Park mit einem kleinen See existierten. Der Park, ein Teil des großen und geschlossenen Areals, sieht heute wie ein Urwald aus.
Der Abriss dieses einst weltbekannten Unternehmens gehört heute zu dem traurigsten Kapitel von Neustadt an der Tafelfichte. Nach der Samtenen Revolution folgten der Niedergang und das Ende. Die Stillegung erfolgte im August 2004. Was den Zweiten Weltkrieg unversehrt überstanden hatte und was die Kommunisten nicht zerstört hatten, wurde jetzt zertrümmert und liquidiert. Die Bilder dokumentieren die unglaubliche Zerstörung und Gewalt. Die Klinger-Fabrik lag auf einer Fläche von 13 Hektar und hatte 22 Gebäude. Alles ist verschwunden. Viele fragen sich, ob dieser Abriss wirklich notwendig gewesen sei. Bürger und Besucher sind entsetzt über den Abriß der historischen Baron-Oskar-Villa und des Firmengeländes im Zentrum. Das Firmenareal war neben dem Klinger-Mausoleum auf dem Friedhof die letzte erhaltene Stätte, die an den großen Textilindustriellen Baron Ignaz Klinger erinnerte und auch heute noch erinnern könnte.
Die Produktionsstätte war ein wichtiges Beispiel für die Industriearchitektur des 19.Jahrhunderts, die das Bild der Stadt lange Jahre mitprägte. Nach der Kapitulation wurden die Deutschen aus der Stadt vertrieben, die Firma wurde verstaatlicht.
Die Wiege einer 100jährigen Großindustrie
Das Haus Nr.58 in Dittersbach im ehemaligen Bezirk Friedland war die Wiege der 100jährigen Großindustrie. Das Haus stand am inneren Fabrikhof der Firma Preibisch-Guttmann und wurde von dem Prokuristen und Direktor der Firma, Julius Rohleder, bewohnt. In diesem Haus betrieb bis 1837 der Faktoreibesitzer Johann Josef Klinger eine Weberei. Diese war die Keimzelle. Zunächst war Ignaz Klinger Faktor der Friedländer Textilfabrik Blumrich für die Region Bärnsdorf.
1839 legte er in Neustadtl den Grundstein zu seiner späteren Weltfirma, die in der höchsten Blüte rund 5000 Menschen in Neustadtl, Jungbunzlau, Kratzau, Terni bei Rom und Prato bei Florenz beschäftigte. In Prato wurde eine mechanische Weberei mit 1000 Webstühlen errichtet. In Brünn, Budapest, Prag, Wien, Hamburg, Paris, Mailand, Neapel, Alexandria, Konstantinopel und New York wurden Vertretungen eröffnet. Seine Brüder Josef und Anton arbeiteten weiter in Dittersbach. Später kauften Florian Hannig das Haus Nr.58 und 1864/65 die Kaufleute und Industriellen Karl August Preibisch beziehungsweise seine Söhne Reinhard Preibisch und Karl Oskar Preibisch aus Reichenau in Sachsen. Sie errichteten 1877 die mechanische Weberei, die zu dem großen Unternehmen ausgebaut wurde.
Nach Klingers Tod führten seine drei Söhne Baron Ottomar Ignaz Klinger von Klingerstorff (*24. Dezember 1852 Neustadtl; †1. Januar 1918 Schloß Kosmanos bei Jungbunzlau), Oskar Freiherr von Klinger (*11.Oktober 1844 Neustadtl, †26. August 1927 Breslau) und Franz Edmund Klinger (1850–†3. Dezember 1883) das Unternehmen, das durch bedeutende Zubauten in Neustadt bereits eine ansehnliche Größe erreicht hatte, weiter. Nach Edmunds Tod am 5.Dezember 1883 in Wien waren Oskar und Ottomar die alleinigen Chefs.
In der Nacht vom 9. auf den 10.April 1876 brach im ersten Stock der mechanischen Weberei in Neustadt Feuer aus. Das vierstöckige Gebäude brannte bis auf die Grundmauern nieder. In drei Stunden vernichtete der rasch um sich greifende Brand sämtliche Maschinen und 500 mechanische Webstühle. Rund 600 Arbeiter verloren ihre Stelle. Das abgebrannte Objekt samt Warenvorräte war mit 540000 Gulden bei der Concordia in Reichenberg versichert. Nach dem Brand wurde eine neue Weberei mit neuen Maschinen errichtet.
1880 kauften die Brüder Klinger die Kammgarnspinnerei in Jungbunzlau. 1901 übernahm Klinger die große Tuchfabrik in Niemes im späteren Kreis Deutsch Gabel. Sie wurde vollständig mit Maschinen neuester Konstruktion ausgestattet. Der damalige Stand war: 31 mechanische Webstühle mit den nötigen Hilfsmaschinen, Wollwäscherei, zwei Sorten Krempeln, vier Selfaktoren mit 1520 Spindeln und den nötigen Hilfsmaschinen. Appretur: vier Walken, drei Doppel- und zwei einfache Rauhmaschinen, vier Tuchwaschwerke, vier Tisch- und zwei Langscheren, drei Bürstenmaschinen, eine Daubliermaschine, eine hydraulische Presse mit fünf Wagen, ein Dampftisch mit den nötigen Dekaturzylindern.
Beschäftigt waren 60 männliche, 25 weibliche, fünf männliche jugendliche, fünf weibliche jugendliche Hilfsarbeiter, ein technischer Beamter und ein kaufmännischer Angestellter mit zwei Praktikanten. Der Betrieb war auf Wasser- und Dampfkraft eingerichtet. Neu aufgestellt wurde eine Compound-Dampfmaschine mit 200 PS. Ferner standen dort ein Wasserrad mit 25 PS und ein Tischbeinkessel mit 200 Quadratmetern Heizfläche. Adolf Schicketanz hatte dieses Unternehmen 1836 mit einem Handbetrieb mit 36 Webstühlen gegründet.
Das Unternehmen wurde später in einen mechanischen Betrieb umgewandelt. Aufgestellt wurden 20 mechanische Webstühle mit den nötigen dazugehörenden Spinnerei- und Appreturmaschinen. Die Arbeiter stammten aus Niemes, Höflitz, Plauschnitz, Schwabitz und Hühnerwasser. Das Absatzgebiet war größtenteils Deutschland, Frankreich und die Türkei. Die kaufmännische Zentrale, die zusätzlich Kantine, Badehaus und Schlafsaal für auswärtige Arbeiter aufwies, war in Neustadt. Die sich im Sudetenland besonders drastisch auswirkende Weltwirtschaftskrise unterbrach den Aufschwung der Firma. In den dreißiger Jahren wurde die Firma Klinger deswegen in eine GmbH namens LANEX umgewidmet. Nach dem Zweiten Weltkrieg produzierte sie unter kommunistischem Vorzeichen recht erfolgreich weiter. Nach der Wende - im Jahr 2003 - stellte sie die Produktion ein. Ein anschließender Neustart mit neuen Besitzern scheiterte.
Oskar Klinger senior
Oskar Klinger war zweimal verheiratet. Seine erste Frau Anna Marie Ginzkey aus Maffersdorf ehelichte er am 1. Juni 1874. Sein Sohn Oskar heiratete Arabella Blaschke, die Schwester der Baronin Liebieg. Nach dem Tod von Anna Marie am 13.Februar 1895 heiratete er am 29.September 1908 in Kosel bei Patschkau in Schlesien die Gräfin Helene Anna Gabriele Strachwitz. Zum Andenken an seine verstorbene Frau Anna Marie gründete und schenkte Baron Oskar Klinger 1897 der Stadt eine Bücherei, die 1333 Bände umfasste. 1934 stieg der Bestand auf weit mehr als 5000 Bände, was nur durch regelmäßige und große Zuwendungen von seiten des Gründers und seiner Familie möglich war.
Am 1.November 1912 zog sich Oskar Klinger, nachdem zuvor auch sein Bruder Ottomar aus der Firma ausgetreten war, aus dem geschäftlichen Leben zurück. Er übertrug die Leitung des Unternehmens seinem ältesten Sohn Oskar in dritter Generation und übersiedelte nach Breslau.
Nach Oskar Klingers Tod 1927 in Breslau schrieb die lokale Presse: „Der Verstorbene wurde in Anerkennung seiner großen Verdienste um die Industrie 1898 in den Adelsstand und 1908 in den Freiherrnstand erhoben. Er bekleidete eine Reihe von öffentlichen Ehrenstellen. Er war auch Mitglied der Reichenberger Handels- und Gewerbekammer und Verwaltungsrat der Reichenberger Bank. Oskar Klinger war ein hervorragender Vertreter der deutsch-böhmischen Industrie, zu deren glänzendsten Repräsentanten er durch ein halbes Jahrhundert zählte. Als ein Mann von vornehmer Gesinnung genoss er in weiten Kreisen allgemeine Wertschätzung und Verehrung. Seine nie endende Tatkraft, sein hervorragendes kaufmännisches Talent und seine außergewöhnliche Sachkenntnis haben das Aufblühen der Firma wesentlich gefördert.“
Ottomar Klinger: Ehrenbürger von Neustadt
Aus Anlass der Ernennung Ottomar Klingers zum Ehrenbürger schrieb die Lokalpresse: „Am Samstag, 20. Dezember 1902 hat Ottomar Klinger von dem Bürgermeister Adolf Glöckner die Ehrenbürgerschaft von Neustadt an der Tafelfichte verliehen bekommen. Der Text der Plakette lautet: ,Herrn Ottomar Edlen von Klinger verleiht die Stadt Neustadt an der Tafelfichte in Böhmen für seine großen Verdienste um die Hebung der Industrie für seine Verdienste um den kulturellen Aufschwung des Gemeinwesens sowie die vielen Schöpfungen humanitärer Art die Rechte ihres Ehrenbürgers.“
1905 kaufte Baron Ottomar Klinger das Schloss in Kosmanos, das bis zum Erlaß der Beneš-Dekrete 1945 die Familie Klinger besaß. Im Stadtmuseum befindet sich noch heute ein Tisch des Barons Ottomar Klinger. In der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts befanden sich im Schlossgebäude eine Grundschule und ein Internat der Wirtschaftsschule. Der große Saal wurde als Konzertsaal genutzt, und etliche Räume wurden in Wohnungen umgewandelt.
Stadtgeschichte
1584 gründete Melchior von Redern Neustadt an der Tafelfichte, 1592 erhielt die Bergstadt Stadtrecht und Stadtwappen. Zur selben Zeit entstand eine Schützenbrüderschaft. Im Dreißigjährigen Krieg suchten die Schweden Neustadt zweimal heim. Die Errichtung eines Grenzzollamtes erfolgte 1652. Auch 1740 bis 1745 litt Neustadt unter den Plünderungen und Brandschatzungen während der schlesischen Kriege. Vor 265 Jahren äscherte eine verheerende Feuersbrunst 113 Häuser ein, nur 30 Häuser blieben erhalten. In den Befreiungskriegen erlebte Neustadt den Durchzug polnisch-französischer sowie russischer Truppen.
Die Textilindustrie kam 1863 nach Neustadt. Das Zinnvorkommen bei der Stadt, dem sie ihre Gründung zu verdanken hat, erwies sich als wenig ergiebig. In mehr als 20 Gruben wurde nach dem Metall geforscht, doch der Ertrag war zu niedrig. Schon bei Beginn des Dreißigjährigen Krieges erlosch der Zinnbergbau; er konnte niemals eine wirtschaftliche Bedeutung erlangen. Ein beachtenswerter Erwerbszweig war die Porzellanmalerei, die im 19.Jahrhundert zahlreiche Meister beschäftigte. Vornehmlich wurden Pfeifenköpfe, aber auch vieles andere Gebrauchsporzellan bemalt. Der Beginn des Ersten Weltkriegs war zugleich das Ende des Porzellangewerbes. Bereits 1861 war auf dem Marktplatz ein neues Rathaus und 1863 an der Friedländer Straße ein Schießhaus erbaut worden. 1883 kam eine Grundschule dazu. Am 17. August 1884 beging die Stadt ihren 300. Geburtstag.
Neustadt an der Tafelfichte hat heute (Januar 2019) 3650 Einwohner, davon sind 180 (6,4 Prozent) arbeitslos. Die Einwohnerzahl sinkt. 2013 waren es 3805 Einwohner, 2014-3784, 2015-3781, 2016-3720, 2017-3710, 2018-3676. Im Jahr 1910 hatte die Stadt 7510 Einwohner. 1950 waren es nur noch 3352. Eine unerwünschte Spitzenposition konnte die Stadt leider behalten: 2018 wurde bekannt, daß fast jeder dritte Einwohner von Neustadt an der Tafelfichte verschuldet ist und vom Gerichtsvollzieher besucht wurde. Viele Einwohner tschechischer Städte leiden unter einer Schuldenlast. In Friedland sind „nur“ 15 Prozent der Einwohner verschuldet. In in Neustadt an der Tafelfichte, der am höchsten verschuldeten Gemeinde im Reichenberger Kreis, liegt die Pro-Kopf-Verschuldung bei umgerechnet rund 7700 Euro. Neue Daten zeigen, daß die Tendenz steigend ist; der Zustand ist alarmierend.
„Proletarier aller Länder, vereinigt euch“, tschechisch „Proletáři všech zemí, spojte se“: Auch mit dieser Parole aus dem Kommunistischen Manifest, die einst an Wänden und über Portalen stand, war die bis 1945 sudetendeutsche Firma des Ignaz Klinger in Neustadt an der Tafelfichte verbunden. Sie zierte einen Eingang zum Firmengelände. Das Gespenst des Kommunismus war bis zum Schluss mit dabei. Jetzt liegt es auf dem Schutthaufen. Hier endet auch die Geschichte des traditionsreichen Neustädter Familienunternehmens.