Die Regionalbibliothek in der Wissenschaftlichen Bibliothek in Reichenberg beherbergt nicht nur Tausende von Büchern in den Regalen, die der Besucher auf den ersten Blick sieht. Viele Bücher und andere Druckerzeugnisse sind im Hintergrund der Bibliothek verborgen. Dort lagern selten ausgeliehene Bücher, Fachpublikationen, fremdsprachige Werke und nicht zuletzt historische Bücher. Diese wertvollen Bücher werden nicht verliehen. Sie können nur in der Bibliothek angesehen werden. Zu ihnen gehören die Bücher der ehemaligen Bibliothek des ehemaligen Franziskanerklosters in Haindorf, deren erster Teil aus Prag nach Reichenberg gebracht wurde.
Um die Bedeutung der Bibliothek in Haindorf zu verstehen, muß man weit in die Vergangenheit zurückgehen. Der Wallfahrtsort Haindorf mit der Kirche Mariä Heimsuchung ist einer der ältesten Marienwalfahrtsorte in Nordböhmen. Das Wunder, das den Wallfahrtsort berühmt machte, geschah an der Wende vom zwölften zum 13. Jahrhundert. Der Legende nach wurde dieser alte Wallfahrtsort bereits 1211 gegründet. In jenem Jahr entstand an der Stelle der jetzigen Basilika eine erste hölzerne Kapelle. Im Laufe der Zeit war sie jedoch für die vielen Pilger zu klein. Wegen der zunehmenden Berühmtheit des Ortes wurde 1252 die hölzerne von einer steinernen Kapelle mit einem gotischen Gewölbe ersetzt. Sie ist noch heute Teil der Kirche und heißt Waldsteinkapelle.
Mehrmals wechselte die Kirche ihren Besitzer. An der Stelle der gotischen Kapelle baute das Geschlecht Bieberstein Ende des 13. Jahrhunderts eine gotische Kirche. 1558 verkaufte Kaiser Ferdinand I. das Herrschaftsgut an die protestantische Familie von Redern, die alle katholischen Kirchen auf ihrem Gut zu protestantischen Kirchen umwidmen ließ. Unter ihrer Herrschaft wurde die katholische Kirche in Haindorf wegen der zahlreichen katholischen Wallfahrten geschlossen. Herzog Albrecht von Wallenstein, der Generalissimus der kaiserlichen Armee im Dreißigjährigen Krieg, kaufte das Anwesen im Herbst 1622 und eröffnete die Wallfahrtskirche wieder.
Damals begann ein ständiger Anstieg der Pilgerzahl. Kurz nach dem Mord an Herzog Albrecht von Wallenstein am 25. Februar 1634 in Eger erwarb die Familie Gallas 1636 Wallensteins Besitz. An der selben Stelle wurde 1722 bis 1729 die zweitürmige Wallfahrtskirche Mariä Heimsuchung errichtet.
Das heutige Erscheinungsbild des Wallfahrtsortes wurde maßgeblich von den Familien Gallas und Clam-Gallas geprägt. Während ihrer Herrschaft erreichte der Ruhm des Wallfahrtsortes seinen Höhepunkt. Im 17. Jahrhundert sollen bis zu 80 000 Pilger pro Jahr gekommen sein. An manchen Wallfahrten nahmen bis zu 7000 Pilger teil. So viele Pilger erforderten einen ständigen geistlichen, geistigen und körperlichen Dienst. Nach der Genehmigung des Prager Erzbischofs Johann Friedrich von Waldstein (* 18. August 1642 in Wien, † 3. Juni 1694 in Dux) 1691 wurde auf Wunsch von Franz Ferdinand Graf Gallas von Campo (* 1635) und dessen Frau Johanna Emerientia Gräfin Gaschin von Rosenberg (1646–1735) mit dem Bau des Klosters neben der Kirche in der Form begonnen, in der das Kloster bis heute erhalten ist.
Anfang April 1691 wurden hier die ersten sieben Franziskaner aufgenommen. Die barocke Klosteranlage für den Orden entwarf der Architekt Marco Antonio Canevalle. Am 27. April 1692, zwei Monate nachdem Haindorf feierlich an die Franziskaner übergeben worden war, legte der Provinzial und Pater Amando Hermann den Grundstein. Die Fertigstellung wurde auf das Jahr 1695 terminiert. Obwohl die Klosteranlage rechtzeitig fertig war, wurde sie erst im folgenden Jahr bezogen. Die Übergabe an die Haindorfer Franziskaner hatte sich wegen des Todes von Franz Ferdinand Gallas verzögert. Dieser hatte das gesamte Kloster auf eigene Kosten errichten lassen.
Die offizielle Übergabe erfolgte im März 1698 durch den Landeshauptmann Christian Karl Platz von Ehrenthal (* 28. Februar 1663 in Reichenberg, † 5. August 1722 in Friedland). Der erste Vorsteher des Klosters war Pater Januar Šidlo, erster Vikar war Pater Emerlich Brener. Während der Regierung von Kaiser Josef II., einer Zeit, in der Klöster und Klosterkirchen geschlossen wurden, konnte Haindorfs Kloster gerettet werden. Die Zahl der dort untergebrachten Franziskaner wurde reduziert, aber das Kloster blieb erhalten, weil von Anfang an die Stifter Gallas, deren Verwandte und deren Nachfolger, die Grafen von Clam-Gallas, den Klosterbetrieb finanzierten.
Die Entstehung der Klosterbibliothek geht ebenfalls auf das Jahr 1692 zurück. Nachdem Franz Ferdinand Graf Gallas am 4. Januar 1697 in Prag gestorben war, baute seine Frau Johanna Emerentia das Areal weiter aus. Einer der größten Buchspender war bereits zuvor Franz Ferdinand Gallas gewesen. Schon der erste Bücherkatalog von 1692 dokumentierte rund 400 Bände. Der Bestand der Bibliothek wuchs ständig. Die meisten Bücher waren Schenkungen. Auch der Rest der Franziskanerbibliothek von Görlitz fand hier seinen Platz. Die letzten Schätzungen vor der Auflösung der Bibliothek nannten 4500 registrierte Bücher.
Die Klosterbibliothek erlebte zwei Katastrophen. 1761 überstand sie den Klosterbrand, bei dem das Feuer den Großteil der Bücher vernichtete. Die zweite Katastrophe kam zwei Jahre nach dem kommunistischen Umsturz. In der Nacht vom 13. auf den 14. April 1950 kam es im Rahmen der „Aktion K“ – K stand für Kloster – zu einer Tragödie, bei der die Orden und das religiöse Leben in der Tschechoslowakei liquidiert wurden. Die Brutalität dieser Aktion wird auch als Tschechoslowakische Bartholomäusnacht bezeichnet. Die nächste Aktion folgte zwei Wochen später.
In der Nacht vom 27. auf den 28. April schlugen die Volksarmee und die Volksmiliz erneut zu. Die Kirche mit dem Kloster wurde von der Staatssicherheit besetzt. Damals wurden in der Tschechoslowakei insgesamt 247 Männerklöster liquidiert und rund 2500 Mönche verhaftet. Die dritte und letzte Aktion, bei der 670 Frauenklöster mit rund 11 900 Ordensschwestern aufgelöst und die Klöster enteignet wurden, erfolgte im Herbst. Ein Teil der Ordensschwestern wurde 1950 in Weißwasser in Schlesien im nordmährischen Bezirk Freiwaldau interniert.
Auch das Kloster Haindorf wurde unter den neuen kommunistischen Machthabern zu einem Internierungslager für Mönche, später für Ordensschwestern, das 1955 seine Existenz beendete. Später wurde das Gebäude des Klosters als Schule, Speisesaal und Hort für die Schüler genutzt. Der Klostergarten wurde zu einem Schulgarten und Spielplatz für Kinder. In den 1970er Jahren wurde das Klostergebäude zur Ruine. In den 1980er Jahren fiel mehr als die Hälfte des Klostergartens einer neuen Straße zum Opfer. An den ursprünglichen Klostergarten erinnert nur eine rechteckige Rasenfläche an der Hauptzufahrt zur Kirche.
Das Ende des Klosters bedeutete auch das Ende der Klosterbibliothek. Sie wurde auf äußerst seltsame Art zerstört. Nach Angaben von Zeugen ist bekannt, daß es neben den katalogisierten Büchern auch eine Reihe von nicht registrierten Büchern gab, die nach der Vertreibung der Deutschen aus Haindorf und Umgebung ursprünglich in die Bibliothek eingegliedert werden sollten. Die nicht katalogisierten Bücher wurden in die Papierfabrik nach Ferdinandsthal gebracht und vernichtet oder „wiederverwertet“. Die registrierten Bücher wurden dann auf sehr unglückliche Weise sortiert, indem man zwölfjährige Kinder mit dieser Aufgabe betraute, die die Bücher nach Alter und Bedeutung verteilten.
Ursprünglich sollte die Klosterbibliothek von Haindorf nach Reichenberg gebracht werden. Bevor das allerdings geschehen konnte, wurden die Bücher in das Paulinerkloster nach Woborschischt gebracht, und dann in das 1952 gegründete Denkmal des nationalen Schrifttums im Prager Kloster Strahow. Während dieser Umzüge kam es zu weiteren unqualifizierten Umsortierungen und Verlusten. Von den ursprünglich rund 4500 Büchern blieben 1200 erhalten. Der Inhalt besteht hauptsächlich aus alten Drucken, die zwischen 1500 und 1800 erschienen waren. Aus dem 19. Jahrhundert stammen die wenigsten. Was den Inhalt der Bücher betrifft, so überwiegen Bücher über Theologie und Religion gefolgt von Rechtsbüchern, historischen Büchern und Wörterbüchern. Die Bücher sind meistens Deutsch oder Lateinisch geschrieben. Nach der Wende erhielten die
Franziskaner ihre Bücher zurück, darunter auch die Reste der Bibliothek von Haindorf.
Sie beschlossen, die Bücher an die Orte zurückzubringen, von denen sie entwendet worden waren. Da es keine Möglichkeit gab, die Bibliothek nach Haindorf zurückzubringen, weil es da keine Franziskaner mehr gibt, wandten sie sich an die Regionale wissenschaftli-che Bibliothek in Reichenberg, die der Annahme der bibliophilen Schätze zustimmte. Die Bücher bleiben im Besitz der Franziskaner. Die Bibliothek von Reichenberg könnte die Bücher von den Franziskanern kaufen, aber im Moment ist es nicht möglich, da der Kauf mehrere Millionen Kronen kosten würde.
Die Übernahme der historischen Bücher ist für die Regionale wissenschaftliche Bibliothek von großer Bedeutung, wie Dana Petrýdesová, Direktorin der Bibliothek in Reichenberg, bestätigt: „Das ist eine weitere Möglichkeit, zur Entwicklung des Interesses an der regionalen Geschichte beizutragen, was eine unserer wichtigen Aufgaben ist. Nach der Bearbeitung werden die Bestände der Bibliothek für Studenten und andere Wissenschaft-ler zur Verfügung stehen, die die Dokumente bei uns studieren können.“
Der erste Teil der Haindorfer Bibliothek wurde in der ersten Hälfte 2022 nach Reichenberg gebracht. Vorläufig wurden 489 Titel geliefert. Schritt für Schritt sollen die restlichen Bücher übergeben werden. Möglich, daß man noch Bücher findet, die in anderen Sammlungen landeten, so daß ihre Gesamtzahl auf 1500 bis 1800 steigen könnte.
Nach Schätzungen der Reichenberger Bibliothek wird die Katalogisierung der erhaltenen Haindorfer Bücher drei bis fünf Jahre dauern. Die Bücher werden nicht im Tresor aufbewahrt, sondern auf Wunsch der Franziskaner der Öffentlichkeit für Forschungszwecke zugänglich gemacht. Wer etwas aus der geretteten Sammlung sehen will, muß Mitglied der Bibliothek sein und genau wissen, was er sehen will. Bei dem Studium dieser historischen Bücher aus Jahrhunderten ist natürlich Vorsicht geboten.
Das Kloster, das sich in einem verkommenen Zustand befand, hatte der am 20. Juni 1948 in Christofsgrund geborene Pater Miloš Raban nach der Samtenen Revolution gerettet. Bis heute ist keiner der Verantwortlichen für die Folgen der kommunistischen Verwüstung verfolgt worden. Mit der finanziellen Unterstützung der EU, des Tschechisch-Deutschen Zukunftsfonds und von Spendern aus dem Kreis der vertriebenen Deutschen, der Nachkommen der Familie Clam-Gallas und des Unternehmers Dalibor Dědek wurde das gesamte Areal renoviert.
Pater Raban beteiligte sich maßgeblich daran, das ehemalige Franziskanerkloster in ein repräsentatives Internationales Zentrum der geistlichen Erneuerung zu verwandeln. Das wurde 2001 feierlich eröffnet, und Raban war dessen erster Direktor.
Nach seiner Emigration und seinem Studium in Deutschland und Italien wurde er am 9. November 1985 in der Basilika Santa Maria Maggiore in Rom zum Priester geweiht. 1985 bis 1990 war er in Frankfurt am Main tätig. 1990 kehrte er in die Tschechoslowakei zurück. Im September 1990 kam er nach Haindorf, wo er als Pfarrer wirkte.
Am 7. Januar 2011 starb er in den frühen Morgenstunden nach langer und schwerer Krankheit mit 62 Jahren im Reichenberger Krankenhaus. Der Leitmeritzer Bischof Jan Baxant zelebrierte das Requiem für den katholischen Priester, Theologen, Pädagogen und Dekan Miloš Raban zehn Tage später in der Wallfahrtskirche Mariä Heimsuchung. Anschließend fand Miloš Raban seine letzte Ruhe in der Krypta unter der Wallfahrtskirche.