Prag - Am Tag nach dem brasilianischen Debakel lese ich ganz gegen meine Gewohnheit, was die Presse und die Trainer so nach dem Spiel gesagt haben. Löw hat absolut Recht, Brasilien war dem Druck nicht gewachsen. Um so mehr in einem Land, in dem man an Voodoo, die Kraft Gottes und den Erlöser glaubt. Die Spieler waren nach der Verletzung des Heilsbringers Neymar emotional überladen. Statt darüber nachzudenken, wie man den Ausfall des besten Offensivspielers am besten kompensiert, haben sie sich darin überboten, irgendeine überirdische Kraft aus ihrer Trauer zu ziehen. Neymar ist nicht tot, er ist verletzt, unangenehm, aber das gehört nun mal zum Fußball mit dazu. Es war kein Schicksalsschlag oder göttliches Zeichen, sondern ein Foul.
Brasilien bleibt ein Thema
Keith erzählt mir, dass in Südafrikas Facebook-Seiten ein Bild von Oscar Pistorius vor Gericht kursiert, der voller Tränen versucht, den Mord an seiner Freundin zu rechtfertigen. Der Untertitel lautet: die zweitschlechteste Verteidigung der Welt.
Die Spieler sind dann auf den Platz gegangen und jeder wollte es besonders gut machen, jeder wollte für Neymar spielen, statt für die Mannschaft. Jeder wollte mehr machen, statt einfach erst mal seine Rolle zu erfüllen. Dabei kommt dann so etwas heraus, ein aufgescheuchter Hühnerhaufen und riesige Löcher im Spiel.
Ich lese auch ein paar schöne Pressestimmen, am besten gefällt mir ein Vergleich aus Italien, es wird dann wohl die Tuttosport gewesen sein. Die deutschen Spieler haben sich nach ihren Toren gefreut, als hätten sie den Stempelautomaten für die U-Bahn gefunden.
Phil, der Messi-Hasser
Ich bereite mich anschließend auf das Spiel vor und sammle in meinem Quartier Stimmungen. Jason sitzt mit Phil beim Bier und fragt im Vorbeigehen jovial, na, immer noch euphorisch. Ich erkläre ihm, dass es dazu keinen Grund gibt, denn – und jetzt gut aufgepasst – es war ja nur das Halbfinale. Phil aus Australien schimpft unflätig auf Messi, wie ich es noch nie in meinem Leben gehört habe. Seine Worte möchte ich hier nicht wiedergeben, doch wünscht er sich wohl am liebsten, dass ein neuer Goicochea auftaucht und ihm am besten gleich beide Beine bricht, wie besagter baskischer Mittelfeldspieler in den späten 1980er Jahren. Ein Bein gehörte damals Maradona, das andere Bernd Schuster. Der hat sich dann aber bei nächster Gelegenheit revanchiert und den wilden Basken ins Krankenhaus getreten. Seine persönlicher Hassausbruch gegen Messi mündet allmählich wieder im Schwelgen der alten Zeiten in Prag in den frühen 1990ern, den Anekdoten vom Suff und Marihuana-Rausch.
Deutschland – Brasilien war langweilig
Jason erklärt mir, dass er das Spiel zwischen Deutschland und Brasilien nach einer halben Stunde abgeschaltet hat, weil er nur noch Langeweile erwartete. Dann widmet er sich wieder den alten Zeiten und seinem Lieblingsthema, dem Essen. Auf der Straße treffe ich den Koch Pavel, der mir grinsend entgegenkommt und mich fragt, was wir denn da mit den armen Brasilianern angestellt hätten. Auch ihm erkläre ich, dass ich am Tag danach keineswegs euphorisch bin, denn es war ja erst das Halbfinale.
Fred’s Bar ist voll
Dann erzählt mir Nick, dass sein Schüler das gestrige Spiel für langweilig erklärt hat. Und historisch sei es auch nicht gewesen, die Erde sei fünf Billionen Jahre alt, so lange werde man nicht an dieses Spiel denken. Nun kommt auch noch Lexa hinzu, der am Anfang des Turniers auf einen Endspielsieg Englands gewettet hat und die geballte Fußballkompetenz ist versammelt.
In Fred’s Bar erwartet mich großer Andrang, Heidi trägt ihr Holland-Shirt, ich zufällig eine hellblaue ordentlich verwaschene Sportjacke, es hat am Tag abgekühlt auf unter Nur-T-Shirt-Temperatur. Ich skandiere zum Spaß Argentina, Argentina, um die hollando-Amerikanerin ein wenig zu necken. Gleich werde ich von jemandem weggezogen und gewarnt, es seien nur Holländer hier, ich solle mit meiner Unterstützung für Argentinien vorsichtig sein. Ich erkläre ganz entschieden, dass es mir völlig egal ist, wer an diesem Abend gewinnt, ich unterstütze nur eine Mannschaft.
Carlos, Heidis Mitbewohner spricht darüber, dass es auf jeden Fall ein 1970er Retro-Finale geben wird. Etwas in Ungedanken stimme ich zunächst zu, dann stelle ich aber richtig, nein, keinesfalls, entweder gibt es Deutschland gegen Holland wie 1974 oder Deutschland gegen Argentinien wie 1986 und 1990. Dieses Spiel, das Halbfinale, das ist das retro-Finale von 1978. Wen ich denn lieber als Gegner hätte, werde ich weiter gefragt. Mir ist das völlig egal, antworte ich, ich halte Holland und Argentinien für etwa gleich stark. Nein, Holland habe die wesentlich bessere Mannschaft, erklärt mir Carlos. Fred, der Barbesitzer, nicht der Sündenbock der brasilianischen Fußball-Katastrophe, hat auf ein 6:2 gewettet. Nick lacht an der Bar, es gibt wohl eine neue FIFA-Regel, dass in jedem Halbfinale jetzt acht Tore fallen müssen. Ja, entgegne ich, wohl im Elfmeterschießen. Dann erzählt mir Nick, dass sein Schüler das gestrige Spiel für langweilig erklärt hat. Und historisch sei es auch nicht gewesen, die Erde sei fünf Billionen Jahre alt, so lange werde man nicht an dieses Spiel denken. Nun kommt auch noch Lexa hinzu, der am Anfang des Turniers auf einen Endspielsieg Englands gewettet hat und die geballte Fußballkompetenz ist versammelt. Zum Glück wird irgendwann angepfiffen und beide Mannschaften mühen sich zwei Stunden ab, sich gegenseitig zu neutralisieren. Robben und Messi kommen kaum zur Entfaltung, trotz mangelnder Torraumszenen inszeniert Heidi vorbildliches Fanverhalten mit hysterischen Anfällen. Keith erzählt mir, dass in Südafrikas Facebook-Seiten ein Bild von Oscar Pistorius vor Gericht kursiert, der voller Tränen versucht, den Mord an seiner Freundin zu rechtfertigen. Der Untertitel lautet: die zweitschlechteste Verteidigung der Welt. Der ist wirklich gut.
Verlängerung und Elfmeterschießen
Das Spiel geht in die Verlängerung, zwei Amerikaner finden ihren Weg in Fred’s Bar und betreiben conversation mit Heidi, ich stehe dazwischen und muss mithören. Als es schließlich ins Elfmeterschießen geht, setzt einer der beiden zu einer bedeutenden Frage an. Heidi, was ist dir lieber, wenn du vor dem Spiel gewusst hättest, dass es Elfmeterschießen gibt oder dass das Spiel... Er bringt den Satz zu keinem gelungenen Ende. Ich drehe mich zu ihm um und setze an, sorry, das... Er weiß schon, was kommt und ergänzt selbst, ja, das macht überhaupt keinen Sinn.
Van Gaal lässt seinen Ersatztorhüter diesmal auf der Bank, das Auswechselkonto ist wahrscheinlich erschöpft. Doch diesmal versagen den Schützen die Nerven, gleich der erste scheitert mit einem schwachen Elfmeter am argentinischen Torwart und Messi bringt die Blau-Weißen in Führung. Holland trifft, Argentinien trifft, Holland scheitert, Argentinien trifft, Holland trifft, Argentinien trifft, aus. Es hat nicht sollen sein für die Holländer, also spielen zum dritten Mal Deutschland und Argentinien den Weltmeister aus, bisher steht es 1:1. Damit überholt diese Partie das Finale Brasilien gegen Italien (1970, 1994, Stand: 2:0) in der Häufigkeit. Das, so finde ich, sind die wirklich aussagekräftigen Statistiken für Konstrukteure historischer Dimensionen vor Fußballspielen.
Jason kommt nach Ende des Spiels mit strahlenden Augen. Ha, das war ein Spiel, erklärt er, nicht so langweilig wie gestern. Ich kann nur noch zustimmen und verlasse die Zentrale des Fußballsachverstandes und gehe einen befreundeten DJ, Mitglied von Maradona Jazz, über das Ergebnis und das Spiel informieren. Dann reden wir natürlich auch noch über das andere Halbfinale. Ich habe noch nie eine so schlechte brasilianische Mannschaft gesehen, beginne ich. Ich habe noch nie eine so schlechte Mannschaft gesehen, korrigiert mich Balthasar, natürlich trägt er seine blaues Maradona-T-Shirt, und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Für diese Leistung hätten sich sogar Kamerun und Honduras, die beiden schlechtesten Mannschaften des Turniers, entschuldigen müssen.
Gerd Lemke