Das ultralange Wochenende beginnt, denn am Montag und Dienstag gibt es die landesspezifischen Feiertage zum Gedenken an die Bibelübersetzer und Slawenmissionare Kyrill (auch: Cyrill) und Method, die praktischerweise auch gleich eine eigene Schrift für das Slawische eingeführt haben, nicht jedoch die kyrillische Schrift, wie man annehmen sollte, sondern die glagolitische Schrift. Dem folgt am Dienstag der Gedenktag für Jan Hus, den die katholischen Oberhäupter vor 606 Jahren trotz Zusage eines freien Geleits seitens des deutschen Kaisers in Konstanz auf dem Konzil als Ketzer verbrannt haben. Die Prager Verkehrsgesellschaft nutzt diese Tage, kurz nach Beginn der Schulferien im Land, Strecken zu sperren und Straßenbahnen umzuleiten, kurz und gut, alte Routinen gelten nicht mehr viel.
Keine Kugellager
Die Mutter meiner Tochter ist entschlossen, einen Monat nach dem Umzug mal wieder einen Großangriff auf die Wohnungseinrichtung zu starten. Ich montiere den Tretroller meiner Tochter auseinander und entdecke gleich das Problem, ich brauche ein neues Kugellager für die hintere Rolle und mache mich gleich nach Smichov auf, wo ich ein Spezialgeschäft für derlei Artikel kenne. Dazu nehme ich eine Straßenbahn zur U-Bahn Platz der Republik und entdecke dabei die ersten Umleitungen. Die Schienen sind von der Kreuzung Dukla-Helden und Milada Horáková Richtung altes Messegelände gesperrt, hier wird ein Film gedreht. Beim Engel verlasse ich die U-Bahn wieder und brauche eine Tram die Pilsener Straße hinauf, es kommt aber lange keine – Samstagsfahrplan. Ich gehe zu Fuß an der Mozart-Gedenkstätte Bertramka vorbei und dem alten Smichover Friedhof, die Strecke wird länger als gedacht, und habe zusätzlich Pech: Samstags hat der Kugellager-Spezialist komplett geschlossen.
Auf nach Pankrác
Meiner Tochter bleibt noch eine Hoffnung, ein Baumarkt. Der einzige, den ich kenne, der in erreichbarer Nähe mit den Prager öffentlichen Verkehrsmittel ist, liegt bei der U-Bahn-Station Pankrác auf der C-Linie. Ich setze mich also in die nächste Tram und schätze ab, wie weit sie mich in die Nähe der C-Linie bringen kann. Sie fährt über die Moldau und biegt auf dem Palacký-Platz rechts ab, dort sind wohl die anderen Richtungen gesperrt. Ich fahre unter dem Vyšehrad hindurch am Entbindungsheim, dem Wasserwerk und dem Schwimmstadion vorbei und steige in einen Bus um, der mich den Dohlenberg hinauf fährt. Samstagsfahrplan, ich warte eine Viertelsunde, geschenkt. Das letzte Stück spaziere ich zu Fuß am Krčer Friedhof vorbei. Der Baumarkt führt keine Kugellager. Stattdessen kaufe ich Metallwinkel, um einen wackligen Schrank zu stabilisieren, und Gaffer-Band, das kann man immer gebrauchen.
U-Bahn-Linie C ist unterbrochen
Zurück zur Odysse durch den Prager öffentlichen Nahverkehr, mit der U-Bahn kann ich genau eine Station fahren, dann muss ich beim Prager Aufstand in den Ersatzbus umsteigen. Der fährt über die Nusle-Brücke mit dem unvergleichlichen Blick über den Vyšehrad und den Hradschin gleichzeitig. Weiter geht es zum Hauptbahnhof, dort kann ich wieder in die U-Bahn umsteigen. Die fährt auf demselben Gleis in beide Richtungen, was mich nicht wenig irritiert. Fährt da jetzt nur eine U-Bahn ständig hin und her? Das kann dann aber dauern. Nach angemessener Wartezeit fahre ich in die richtige Richtung und verpasse beinahe, an der zweiten Station auszusteigen, ich bin ganz in Gedanken, wo ich das Tschechien-Dänemark-Spiel sehen will. In Vltavska steige ich in die Straßenbahn um, die mich jedoch nur eine Haltestelle weiterbringt. Dann gebe ich auf und gehe den Rest zu Fuß. Doch auch das Hotel Belvedere nutzt die Feiertage und sperrt den Bürgersteig wegen Fassadenarbeiten, die Arbeiter machen wahrscheinlich gerade eine Pause, außer den Seilen vom Dach kann ich nichts und niemanden ausmachen. An den parkenden Autos vorbei laufe ich beinahe in eine entgegenkommende Straßenbahn. Auch zu Fuß zu gehen scheint dieser Tage keine gute Idee, am besten bleibt man zu Hause, wenn man sie schon in dieser Stadt verbringen muss.
Ergeben in die Niederlage
Ich übergehe die häuslichen Konflikte, die die Mutter meiner Tochter mit ihrer Umräumaktion auslöst, und gehe gleich zu meinen Überlegungen über. Das Tschechien-Spiel im Fraktal zu schauen ist sicherlich keine gute Idee, dort sind keine Tschechen, außerdem schmeckt mir das Bier dort nicht mehr, seit ich mal wieder in einer echten tschechischen Bierstube war, dem Kater am Kleinseitener Platz. Dort könnte ich hinfahren, jedoch erfordert das eine längere Fahrt mit der Straßenbahn. Ich sehe also davon ab und gehe ins Barré, wo es sich um sechs Uhr bereits vier Stammgäste an der Bar gemütlich gemacht haben. Von dort hat man zwar einen Blick auf den Bildschirm, kann das Geschehen aber auch ignorieren, falls es der emotionalen Anteilnahme nicht wert ist. Näher am Geschehen sitzt ein Tscheche mit verkniffenem Gesicht und lässt Silvia + Anhang + Pizzakarton nur unter der Bedingung hinzusetzen, dass sie nicht labern. Ich entdecke, dass das Barré nun auch eine Außengastronomie im Betonhof betreibt, erst denke ich, das ist wegen der Raucher, dann merke ich, dass ich ja nicht in einer gewöhnlichen Kneipe, sondern in einem Raucherclub bin.
Fatale Fehlentscheidung
Das Spiel beginnt denkbar schlecht für Tschechien. Nach minutenlangem Mittelfeld-Volleyball, bei dem eine echte Spielidee beider Teams noch nicht erkennbar ist, gibt der Schiedsrichter einen falschen Eckball. Ich denke noch, dass da der Video-Assi nicht eingreift, da zappelt der Fisch, äh Ball schon im tschechischen Netz. Delaney, mit eins zweiundachtzig einer der Kleinsten im dänischen Team, darf den simplen hohen Ball sträflich frei aus acht, neuen Metern einköpfen. Das sollte einer Abwehr nicht passieren. Eine kleine Hoffnung bleibt, jetzt muss der Video-Assi doch endlich eingreifen, dem Tor ging doch eine klare Fehlenscheidung voraus – aber nichts, das Tor zählt und Dänemark hat Oberwasser. Nach einer Viertelstunde, einer ersten tschechischen Annäherung an das dänische Tor, höre ich eine Reaktion des Verkniffenen und des Anhangs, ich glaube, es war „ty vole“. Ich befürchte, dass die Apathie im Raum auch auf das tschechische Team übergeht, das zweite Tor der Dänen gibt mir den Rest, ich verlasse den Laden in der Pause mit der fadenscheinigen Begründung, dass ich mir das nicht länger antun möchte, ...
Das gallische Dorf
… und gehe zu der letzten Kneipe in unserem Viertel, die das Prädikat „urig“ noch verdient, das Prašivka. Und richtig, dort haben sich vier Männer direkt vor einem Fernseher versammelt, deren Gesamtalter ich auf 300 Jahre schätze. Der Korb mit Chips ist kaum angerührt, einzig der Kellner, angeblich der Neffe oder Kleinneffe des ehemaligen Reichsprotektors Karl Hermann Frank, 1946 im Gefängnis von Pankrác hingerichtet, greift im Vorbeigehen ab und an zu. Der Beleibteste und auch Jüngste der Runde erhebt sein Sitzfleisch und lässt herzhaft einen fahren – das ist Lokalkolorit. Ich probiere ein Rathausbier aus Mähren, das mir aber nicht schmeckt. Es schmeckt wie dieses Matuška, das in letzter Zeit populär geworden ist, und Werbung als „kalifornisches Bier“ macht. Die Spiel geht weiter und gleich protestiert jemand, „die dänischen Verteidiger sind zwei Meter groß und die versuchen es mit hohen Bällen!“, doch einer dieser hohen Bälle landet bei Patrick Schick, der den Ball mit dem Fuß weiternimmt und geschickt abschließt. Das haben wir gebraucht, den frühen Anschlusstreffer.
Josef und Jozef
Das Spiel geht hin und her, vor dem Ältestenrat stapeln sich die ungetrunkenen Schnapsgläser. Der Beleibte wendet sich deshalb an unseren Stehtisch und stellt sich als Josef vor. Mein Nachbar ist Jozef, kurz Joze, betont aber, dass er nur in der Slowakei geboren wurde und schon als Kleinkind hierher kam. Nun, Josef braucht weitere Opfer, die mit ihm Schnaps trinken, ich erkläre mich trotz Bedenken dazu bereit, wenn es dem tschechischen Team hilft, und runter damit. Und auch ein neues Bier, ein Klášter, das ist eine sichere Wahl, etwas mild im Geschmack, aber ganz trinkbar. Leute kommen kurz herein, eine Frau mit einem weißen Pudel, dessen Schwanzansatz einen verdächtigen braunen Streifen aufweist. Sie ist wohl die Köchin, denn der Pudel marschiert automatisch in die Küche. Von dort duftet ein herrliches Gulasch, ich gerate kurz in Versuchung, sehe aber angesichts meiner Bargeldknappheit davon ab, Karte wird hier nicht akzeptiert. Im Gastraum läuft kein Fernseher, die Gäste sitzen dort vereinzelt an Tischen, einer liest eine Zeitung, bei anderen weiß ich wirklich nicht, was sie dort machen, sie wirken wie Muscheln auf einer Bank, die ab und an die Schale öffnen.
Jugend belebt das Geschehen
Das Spiel geht hin und her, nichts für schwache Herzschrittmacher, dann passiert etwas völlig Ungewöhnliches: Ein junges Paar betritt die Kneipe, der Junge begrüßt Josef: „He, kennst du mich nicht mehr?“ Den muss wohl jeder hier kennen. Natürlich erinnert sich Josef. „Josef und seine Kameraden sind nach hinten gegangen“, sagt später jemand auf Anfrage. Einer der Alten, den Josef später als Alt-Internationalen im Volleyball vorstellt, kommentiert, „ein Kamerad im Rock“, ich lache und entgegene, „ja, obwohl sie Hosen trägt“. Nun, nach der Auswechslung von Patrick Schick trudelt Tschechien dem Ausscheiden entgegen, wer soll da sonst noch ein Tor schießen? Josef und seine Kameraden kommen zurück, setzen sich zu den Alten. Der Junge stoppt den Redefluss, „Moment, meine Freundin kann kein tschechisch“ und übersetzt auf deutsch. Sofort schwenkt Josef auch auf deutsch um und der Neffe oder Großneffe findet gleich auch Sympathien, obwohl er kein deutsch beherrscht. Josef gibt noch eine Runde Schnaps aus, zur Begrüßung der Gäste aus Deutschland, ich bestelle noch ein Klášter zum Abrunden und unterhalte mich mit Joze, der jeden Freitag oder Samstag in die Kneipe kommt. Dann muss ich mich verabschieden und entschuldige mich mit dem zweiten Spiel, sowohl auf tschechisch als auch auf deutsch, und schaffe es gerade so noch zum Anpfiff ins Fraktal.
Engländer entspannt
Erdbeer-Nick und Leicester-John sitzen noch auf der Terrasse, als die Hymnen erklingen, ich scheuche sie auf, sie haben tatsächliche ihre Barhocker mit Rucksäcken reserviert. „Das habt ihr wohl von den deutschen Touristen auf Mallorca gelernt“, moniere ich. Irish-Carl gesellt sich zu uns. „Mein Gott, was für ein Rasierwasser benutzt du denn?“, frage ich ihn. Er lacht, „die Schwulensorte“. War das jetzt unkorrekt, muss ich die Regenbogenfahne aufziehen? Ich komme nicht bis zum Ende des Gedankens, da schießt Kane ein Tor, die Stimmung der Engländer steigt, die Sticheleien von Irish-Carl werden stumpfer und stumpfer. Die Ukraine kann den Rest der ersten Halbzeit etwas offener gestalten, ist aber letztlich klar unterlegen. Das drückt sich direkt nach Wiederanpfiff auch in Toren aus, nach fünf Minuten steht es 3:0 und nach dem vierten Tor der Engländer gehe ich. „Entschuldigung, das hier ist durch, ich hatte vorgestern meine zweite Impfung und fühle mich noch ein bisschen schlapp. Also jetzt gegen Dänemark“, verabschiede ich mich.
Laut meiner Theorie, einige Tage zuvor geäußert, ist Dänemark der schwierigere Halfinalgegner für England. Gegen Tschechien hätte ich auf ein sicheres Weiterkommen getippt, vielleicht keinen hohen Sieg, doch ein klares Spiel. Gegen Dänemark sieht das anders aus, die Dänen haben nach dem Eriksen-Herzstillstand einen außergewöhnlichen Teamgeist gefunden, außerdem durchweg gute Fußballer mit viel internationaler Erfahrung, das wird eine enge Kiste, schätze ich, und gehe schlafen.