Prag - Viertelfinale, das ist die Scheidelinie bei einer We Em. Wer durch’s Viertelfinale kommt, ist auf jeden Fall auch in der letzten Woche noch dabei. Wer in der letzten Woche noch dabei ist, hat mehr von der We Em.
Freitagmorgen, meine berufliche Verrichtung endet früh, potentielle Kunden wollen ins Wochenende, ich sehe bereits einen langen, quälenden Tag vor mir, bis Deutschland gegen Frankreich angepfiffen wird. Ich setze mich in den noch leeren Biergarten und lese, dass Yogi Löw ganz tiefenentspannt ist. Aha, ihm stehen auch alle Mann außer Shkodran Mustafi zur Verfügung, das ist gut. Wenn der Yogi tiefenentspannt ist, bin ich es auch, beschließe ich. Ich mache noch ein paar Entspannungsübungen im Park, nehme einen Umweg über ein neu eröffnetes China-Restaurant und halte Siesta.
Die Kunst der Tiefenentspannung
Ganz tiefenentspannt wache ich drei Stunden später auf und begebe mich allmählich in den Rieger-Park. Eine Stunde vor Anpfiff ist es schwer, noch einen Platz zu ergattern. Ich lande am Tisch eines Bekannten mit bestem Blick auf die Großleinwand, mit am Tisch sitzt ein Finne, zwei Holländer und zwei ganz junge Amerikanerinnen, von denen eine ein französisches Trikot trägt. Deutsche und Franzosen verteilen sich gleichmäßig im Biergarten, die einen skandieren Deutschland, die anderen allez les bleus. Schließlich kommt noch eine Hamburgerin an unseren Tisch und wir sind komplett. Ich bin ganz tiefenentspannt, selbst wenn sich kurzfristig ein paar Leute in die Sicht stellen. Gordon reicht mir die Mannschaftsaufstellung rüber, Klose von Anfang an, Schürrle und Götze auf der Bank, Schweinsteiger und Khedira mit Kroos im defensiven Mittelfeld. Ich bin so tiefenentspannt, dass mir das Fehlen des vierten Vorstoppers zunächst entgeht und damit der Wechsel von Lahm auf die Verteidigerposition. Die Aufstellung ist genehmigt, so in etwa sieht die stärkste Elf aus, die Löw aufs Feld bringen kann, mit der Schürrle-Option, wenn mehr Dynamik ins Spiel kommen soll.
Löw mal mit der stärksten Elf
Die Amerikanerinnen, ganz jung auf ihrer Weltreise, fotografieren tschechische Würste, die sie dann auch tatsächlich verspeisen. Das ist für ihren Blog.
Vor dem Anpfiff lasse ich ganz tiefenentspannt die anderen im Biergarten die Nationalhymnen mitsingen, verglichen mit der französischen ist die deutsche musikalisch etwas monoton. Das Spiel beginnt, Deutschland spielt wieder wie Deutschland in den vergangenen Jahren und nicht wie Deutschland im vergangenen Jahrhundert. Die Mannschaft kontrolliert den Ball, das Tempo beider Teams ist gedrosselt, kein Wunder, spielen sie doch in der größten brasilianischen Mittagshitze. Freistoßflanke, Kopfball, Tor. Gut, dass Mats Hummels wieder dabei ist und dass Löw wohl wieder Standards trainieren lässt, denke ich mir. Die schöne Flanke kam übrigens von Kroos. Ich klatsche mit der Hamburgerin ab und bin nun noch tiefenentspannter. Ums Spiel kümmere ich mich nun nicht mehr, sondern um meine Nachbarn am Tisch. (Das ist natürlich völliger Quatsch, vielmehr kümmere ich mich ganz tiefenentspannt nur ums Spiel und registriere, wenn mir jemand ein neues Bier vor die Nase stellte.) Die Amerikanerinnen, ganz jung auf ihrer Weltreise, fotografieren tschechische Würste, die sie dann auch tatsächlich verspeisen. Das ist für ihren Blog. Frankreich kommt am Ende der ersten Halbzeit auch mal zu Chancen und ein paar Ecken. Der Linienrichter hat beschlossen, an diesem Tag seine Fahne unten zu lassen, Frankreichs lange Bällen überlisten so die Abseitsfalle.
Tiefenentspannte zweite Hälfte
Halbzeit zwei sieht mich ebenfalls ganz tiefenentspannt. Frankreich kommt jetzt stärker, doch die deutsche Abwehr hat das eigentlich ganz gut im Griff. Klar, dass Neuer auch mal was zu tun bekommt. Schürrle kommt für Klose und macht gleich Wirbel. In diesem Spiel hat er aber Pech, bei zwei sehr guten Chancen scheitert er am Torwart, ein anderes Mal kommt sein letzter Pass nicht an. Aber es kann halt auch nicht jedes Mal klappen. Der Schiedsrichter pfeift konsequent, gab es in der ersten Hälfte drei strittige Szenen, in denen der deutsche Fan gerne Elfmeter gesehen hätte, so lässt der Unparteiische in der zweiten Hälfte die Pfeife stumm, als Schweinsteiger im Sechzehner Benzema das weitere Vordringen versperrt. Löw wechselt und bringt einen Spieler, dessen Gesicht ich noch nie gesehen haben, Kramer, das Laufwunder aus Mönchengladbach. Neuer hält am Ende der Nachspielzeit noch einen Schuss von Benzema, gut dass Neuers Schulter wieder in Ordnung ist, Deutschland ist tiefenentspannt und kommt weiter. Die Fans hinter uns haben den Gesang von Auf Wiedersehen auf allez les bleus umgestellt, ich unterhalte mich noch ein bisschen mit der Hamburgerin und gönne mir anschließend das neudeutsche Nationalgericht, Kebab.
Südamerikanische Rasanz
Genau so habe ich mir das südamerikanische Duell vorgestellt, voller Leidenschaft und Emotionen, mit rasanten Zweikämpfen, harten Tacklings, vielen Eins-zu-eins-Situationen, insgesamt weit weniger Taktik als beim ersten Viertelfinale, dafür mehr Adrenalin und Testosteron.
Letztendlich schaue ich Brasilien gegen Kolumbien in Fred’s Bar. Ich mache allen klar, dass nur Brasilien dieses Spiel gewinnen kann, es gibt aber immer noch Fußball-Romantiker, die an den Sieg des schönen Spiels glauben. Nur, dass Brasilien den nördlichen Nachbarn nicht schön spielen lässt und nach einer Ecke früh in Führung geht, ein Verteidiger macht das Tor. Ich diskutiere mit Petr ein Weilchen die höchst strittige Aussage des Kommentators, das Tor sei „kostrbatý“ gewesen. Wie kann man so einen Quatsch erzählen, frage ich ihn. Die Flanke kommt, am Fünfmeterraum steigt eine Spielertraube hoch, niemand erreicht den Ball so richtig, der brasilianische Verteidiger, der nach vorne mitgekommen ist, läuft in die Flanke hinein und lenkt sie mit dem Knie ins Tor. Was zum Teufel war daran „kostrbatý“, was so viel wie hüftsteif bedeutet? Später erzählt Kommentator Bosák noch was vom südamerikanischen Spiel, das wir uns ganz anders vorgestellt haben. Wieder diskutiere ich mit Petr den Gehalt dieser Aussage. Genau so habe ich mir das südamerikanische Duell vorgestellt, voller Leidenschaft und Emotionen, mit rasanten Zweikämpfen, harten Tacklings, vielen Eins-zu-eins-Situationen, insgesamt weit weniger Taktik als beim ersten Viertelfinale, dafür mehr Adrenalin und Testosteron. Irgendwie hat der Kommentator nicht seinen besten Tag erwischt.
Spiel der Standardsituationen
In der zweiten Hälfte haut ein Brasilianer noch einen Freistoß ins Tor, der Ball schien mir nicht ganz unhaltbar. Die Brasilianer haben nämlich auch Standardsituationen geübt. Eigentlich haben sie nie damit aufgehört. Zwei Tore, eins aus einem Eckball und eines aus einem Freistoß, Kolumbiens Elfmetertreffer komplettiert das Standardsituationen-Trio. Ein Kolumbianer rammt Neymar von hinten das Knie ins Kreuz. Neymar bleibt sogar während des kolumbianischen Konters liegen, Petr beschimpft ihn als Simulanten. Ich biete ihm an, die Szene nachzustellen, ich ramme ihm mein Knie ins Kreuz, mal sehen, wie lange das schmerzt. Petr lehnt dankend ab. Im späteren Teil des Abends lese ich, dass Neymars Wirbel gebrochen ist und für ihn die We Em damit vorbei. So ein Simulant aber auch...
Klar, dass Brasilien das Spiel über die Zeit schaukelt und ins Halbfinale einzieht. Kolumbiens James (keine Ahnung, wie man das auszusprechen hat) Rodriguez hat wohl sein sechstes Turniertor geschossen und gute Aussichten auf den Goldenen Schuh, nachdem Thomas Müller bereits verkündet hat, keinen Platz mehr für einen weiteren auf seinem Regal zu haben. Benzema ist aus dem Turnier, bleibt als ernsthafter Konkurrent noch Messi. Ich diskutiere später mit zwei Utrechtern, das ist das wahre Holland, die Aussichten dieser We Em aus Sicht der Oranjes. Beide empfinden ein Halbfinale gegen Belgien als eher unwürdig, die Sone und der Jerome. Da hoffe ich für sie nur, dass es nicht Holland sein wird, das für eine Vermeidung dieses Spiels ausscheiden muss. Klar, Argentinien gegen Holland klingt weit spektakulärer, als Belgien gegen Costa Rica. Ich werde trotzdem den Belgiern, den roten Teufeln/diables rouges/roje duivels die Daumen drücken, schon alleine aus Loyalität zu dem alten Lotharingen, dem kurzlebigen Staat im 9. Jahrhundert, der mein Herkunftsgebiet mit Benelux vereint hat. Und dann natürlich wieder Deutschland, ist ja klar. Im Halbfinale geht es gegen Brasilien, das leider ohne Neymar auskommen muss. Ob Sieg oder Niederlage, wir sind wieder bis zum Ende dabei, das ist wichtig. Die Hamburgerin würde sich bereits über einen dritten Platz freuen. Drei Mal Dritter möchte aber wirklich niemand werden, dann diesmal doch eher eine Finalniederlage gegen Holland. Keinesfalls aber gegen Argentinien. Und gegen Belgien erst recht nicht. Am besten wäre es aber eh’, wenn Deutschland gewinnt. Das wäre wirklich am besten.
Gerd Lemke