Prag - Die große Frage vor dem Anpfiff lautet: Lohnt sich das Spiel oder nicht? Wir sitzen entspannt auf der Terrasse und diskutieren den Spielermarkt, wenn Kroos zu Real Madrid geht, dann geht wohl Khedira zu Arsenal London. Das würde deren Zentrale stabilisieren, so dass Arsenal nicht mehr solch unsinnig hohe Niederlagen gegen Spitzenteams erleidet. Zusätzlich wechselt Sanchis von Barcelona zu Arsenal, während Suarez von Liverpool zu Barcelona wechselt. Ich wundere mich über die Bayern, denn der Verein ist es nicht gewohnt, dass ein Spieler ihn gegen den Willen der Vereinsführung verlässt. Ich erinnere mich noch gut an das Theater, als Ballack seinen Wechsel zu Chelsea verkündet hat. Kroos ist definitiv ein Spieler, den die Bayern gerne halten möchten. Er ist im besten Fußballalter, hat aber schon reichlich Erfahrung und hat in verschiedenen Mittelfeldpositionen seine Aufgaben erfüllt. Pep Guardiola wird dann wohl weitere Spanier nach München lotsen – ob das lange gut geht? Man U hat unsinnig viel Geld für einen englischen Spieler ausgegeben, meine Gesprächspartner, Experten für FC Liverpool und Arsenal London, können darüber nur lachen.
Ghana erfüllt die Klischees
Ich höre die schöne Geschichte, wie Ghana bei dieser We Em das ganze Land blamiert – nicht auf, sondern neben dem Platz. Die Regierung soll 800 Politiker auf Staatskosten nach Brasilien transportiert haben, nun beantragen 200 von ihnen dort politisches Asyl. Die Begründung lautet, sie werden als Katholiken von Muslims unterdrückt oder fürchten bei der Rückkehr Repressionen. Ob es religiöse Spannungen in Ghana gibt, ist mir nicht bekannt, was es aber gibt, sind solche Probleme in Nigeria. Vielleicht hoffen sie, dass die Behörden nicht so genau hinschauen, um welches Land es sich dabei handelt. Dann hat Ghana drei Millionen, ich nehme an, es handelt sich um US-Dollar, Bargeld nach Brasilien schmuggeln wollen, das Ziel war wohl, ein Spiel zu kaufen. Vor dem letzten Spiel werden zwei Spieler aus disziplinarischen Gründen nach Hause geschickt, einer davon ist Kevin Prince Boateng. Nach dem Spiel setzt sich Muntari in die Spielerkabine hin und pafft einen fetten Joint. Ein Mitspieler knipst das und veröffentlicht dieses Bild auf Facebook oder einem anderen sozialen Netzwerk. Alles in allem erfüllt Ghana damit alle Klischees eines afrikanischen Teams.
Anpfiff, Fehler, Elfmeter, Tor
Brasiliens Albtraum geht also weiter. Eine blutjunge Brasilianerin, die von einem ebenso jungen Italiener begleitet wird, leidet ein bisschen mit, doch nach dem Dienstagsdesaster kann es kaum schlimmer kommen.
Natürlich gehen wir in Fred’s Bar und schauen uns das kleine Finale an, Brasiliens Trainer Scollari bringt wieder Thiago Silva und der bedauernswerte Dante erhält keine Gelegenheit, seine unterirdische Zweikampf-Bilanz aus dem Deutschland-Spiel aufzubessern. Dass das aber auch keine Stabilität in die Abwehr bringt, zeigt sich bereits nach nicht einmal zwei Minuten. Plötzlich geht es schnell in Hollands Spiel, van Persie zieht an, Robben startet, Pass in die Schnittstelle, Robben würde alleine aufs Tor laufen, Thiago Silva packt beherzt an Robbens Schulter zu, der solche Situationen liebt und gekonnt fällt. Der marokkanische Schiedsrichter hat zwei Optionen, da der Griffansatz vor dem Sechzehnmeterraum erfolgt, kann er auf Freistoß entscheiden und auf Platzverweis für Silva. Da Robben aber erst im Strafraum gestoppt ist, gibt es auch die Möglichkeit einen Strafstoß zu verhängen und bei Silva Gnade vor Recht ergehen zu lassen und es bei einer gelben Karte zu belassen. Der marokkanische Schiedsrichter wählt Variante zwei und van Persie verwandelt in der dritten Minuten sicher. Brasiliens Albtraum geht also weiter. Eine blutjunge Brasilianerin, die von einem ebenso jungen Italiener begleitet wird, leidet ein bisschen mit, doch nach dem Dienstagsdesaster kann es kaum schlimmer kommen.
Brasilien spielt Retro-Fußball
Brasilien reagiert mit Leidenschaft, Scollari lässt noch mal den Fußball von gestern aufspielen, Spieler schleppen die Bälle durchs Mittelfeld und suchen dann etwa dreißig Meter vor dem gegenerischen Tor Anspielstationen. Dann wiederum kombiniert Brasilien wie einst, der Ball zirkuliert in der Abwehr und im defensiven Mittelfeld scheinbar ohne Tempo und landet dann doch vorne, wo Romario und Bebeto sich auch auf engstem Raum durchsetzen können. So war das 1994, beim vierten We Em-Titel, im Endspiel im Elfmeterschießen gegen Italien. Damals ordnete Carlos Dunga das Mittelfeld, ein solcher Spieler ist weit und breit nicht zu sehen. Und vorne? Tja, da stehen Oscar, Jo, später Hulk. Fred, der Sündenbock der Selecao darf diesmal nicht mehr mitspielen. Oscar macht ja manchmal ganz nette Dinge auf dem Platz, schöne Dribblings, wenn er etwas Raum hat, doch er strahlt keine Torgefahr aus.
Kleine Finale im Laufe der Zeit
Nachdem Holland in der 18. Minute das Zwei-zu-Null macht und somit das Spiel entscheidet, werfe ich die Frage auf, ob sich jemand daran erinnert, dass ein Spiel um Platz drei jemals in die Verlängerung gegangen ist? 2010 siegte Deutschland 3:2 gegen Uruguay, 2006 3:1 gegen Portugal, 2002 spielten die Türkei und Südkorea gegeneinander, die Türkei gewann, das Ergebnis könnte 3:2 gewesen sein, ich erinnere mich aber nicht mehr genau. 1998 besiegte Kroatien Holland, 1994 Schweden Bulgarien mit 4:0, 1990 standen sich England und Italien gegenüber mit einem Sieg von England, oder nicht? War es 1986 Belgien, das gegen Frankreich spielte und verlor oder doch gewann? Ich meine, Frankreich hätte wenigstens dieses kleine Finale gewonnen, nachdem es 1982 gegen Polen verlor. 1978 stand dort ebenfalls Brasilien und gewann gegen Italien, länger reicht meine persönliche Erfahrung nicht zurück, ich weiß nur, dass 1974 Polen siegte, der Gegner könnte Brasilien gewesen sein und 1970 Deutschland Uruguay mit 1:0 schlug. 1966 müsste Portugal dritter geworden sein, 1962 stand definitiv Jugoslawien im kleinen Finale, 1958 schlug Frankreich Deutschland relativ hoch, es könnte 6:3 gewesen sein, Juste Fontaine schraubte seine Torausbeute auf unglaublich 13 Treffer in einem Turnier, das wird wohl für immer unerreicht bleiben. 1954 müsste das Spiel um Platz drei Österreich gegen Brasilien gelautet haben und 1950 fand ein solches Spiel überhaupt nicht statt. Damals gab es ja auch kein richtiges Finale, nur ein Spiel zwischen Uruguay und Brasilien, das letzte des Turniers, in dem Brasilien die sicher geglaubte Weltmeisterschaft durch eine 1:2 Niederlage verspielte, ein Unentschieden hätte schon ausgereicht. Dass 1938 Italien im Endspiel gegen Ungarn siegte, weiß ich noch, aber wer im kleinen Finale stand, ist aus meinem Gedächtnis entschwunden. 1934 stand dort Deutschland und gewann – aber gegen wen? Was 1930 geschah, das wissen einzig die Annalen.
Würde Brasilien 2014 gegen Brasilien 1970 verlieren?
Also gut, in meinem Kopf bildet sich die These, dass diese brasilianische Mannschaft so schlecht ist, dass sie trotz größerer Fitness der Spieler und spieltaktischer Neuerungen wahrscheinlich gegen das Weltmeister-Team von 1970 verlieren würde. Brasilien spielt Fußball aus einem anderen Jahrhundert, außerdem suchen die Spieler zu häufig den Schienbeinkontakt, um Freistöße herauszuholen. Aus den Freistößen resultieren dann und wann auch mal kleine Aufreger vor dem holländischen Tor, aber richtig herausgespielte Torchancen sind das nicht. Ach ja, das Zwei-zu-Null in der achtzehnten Minute, es offenbart die ganze Schwäche in der brasilianischen Abwehr. Die Holländer spielen auf dem rechten Flügel einen Spieler frei, der zur Grundlinie geht und den Ball hoch vors Tor bringt. Luis David kann locker mit dem Kopf klären, macht das aber so kläglich, dass der Ball dem völlig freistehenden Wijnaldum (ich hoffe, ich schreibe es richtig) am Elfmeterpunkt vor die Füße fällt. Dieser nimmt den Ball an und hat alle Zeit der Welt, das Spielgerät unter die Latte zu zimmern. Schlimm, dieses Abwehrverhalten.
Brasilianisches Mittelfeldgewürge
Danach drosseln die Oranjes ihren Tordrang und lassen Brasilien sein schauderhaftes Mittelfeldgewürge aufziehen, alles bleibt Stückwerk, mit Einzelaktionen versuchen die Spieler immer wieder, sich in die gefährliche Zone vorzuarbeiten, Kombinationen, die im Ansatz vielversprechend aussehen, brechen in einem Fehlpass ab. Fernschüsse verfehlen weit das Ziel und als der Schiedsrichter mal Elfmeter für Brasilien geben könnte, lässt er es bleiben. Zu früh stürzt sich der Brasilianer für seinen Geschmack über das ausgestreckte Verteidigerbein, diese Entscheidung ist vertretbar, finde ich.
Des einen Fred Freud, des anderen Freds Leid
Damals konnten aber brasilianische Defensivspieler auch noch selbstverständlich einen Ball stoppen, ohne dass der vom Fuß sprang. Damals schien jeder brasilianische Feldspieler fähig, drei Gegner auszudribbeln. Damals, damals, damals.
Am Ende setzt Holland noch einen schönen Konter und macht das dritte Tor, zur Freude von Fred, dem Barbesitzer, der dieses Ergebnis getippt hat, und zur Trauer von Fred, dem brasilianischen Stürmer, dem Schwalbenmann vom ersten Spiel. Van Gaal gönnt sogar seinem dritten Torwart noch einen Mini-Einsatz, dann ist es vorbei, Brasilien ist von dem Turnier erlöst, das Land von der Mannschaft und der Trainer von seiner Aufgabe. Es ist kaum zu glauben, was aus dieser Mannschaft geworden ist. Vor vier Jahren spielte Brasilien gut, dominierte Holland im Viertelfinale und gab aus mir unerklärlichen Gründen das Spiel in der zweiten Hälfte aus der Hand. 2006 basierte Brasilien auf Stars, Ronaldo, Ronaldinho, Roberto Carlos und all die anderen großen Namen, denen der Wille zum Erfolg fehlte und denen Zinedine Zidane im Viertelfinale im Wege stand. 2002 dirigierte Rivaldo, ein Kämpfer mit feiner Technik und großartiger Schusstechnik das Spiel und Ronaldo machte vorne die Tore, 1998 reichte es immerhin noch zum Finale gegen Frankreich, über 1994 habe ich oben bereits geschrieben, in den Turnieren zuvor gab es schönen brasilianischen Fußball ohne Erfolge, Italien, Argentinien und Frankreich schlugen die Schönspieler in zum Teil fürchterlich anzuschauenden brutalen Spielen. Damals konnten aber brasilianische Defensivspieler auch noch selbstverständlich einen Ball stoppen, ohne dass der vom Fuß sprang. Damals schien jeder brasilianische Feldspieler fähig, drei Gegner auszudribbeln. Damals, damals, damals. Es ist nicht zu glauben, dass es in ganz Brasilien keine solche Spieler mehr gibt, dass Brasilien seinen Gegnern technisch unterlegen ist, ich wiederhole, technisch. Taktisch in diesem Turnier sowieso, aber technisch?
Nun wartet das Endspiel und die möglicherweise größte Demütigung auf das ganze Land, die Präsidentin mit dem slawischen Namen muss am Ende Messi den We Em-Pokal überreichen und es erklingt die argentinische Hymne. Das kann sie politisch nicht überleben, das würde die Tüpfelchen auf das i im Wort Erniedrigung setzen. Schlimm, schlimm, schlimm dieses Bild. Dies wünsche ich Brasilien wirklich nicht.
Gerd Lemke