Der erste Spieltag ist endlich vorbei, gleich geht es aber mit dem zweiten Spieltag weiter. Das dichte Programm duldet keine Pause, Kroatien und Albanien bekriegen sich unter der unerbittlichen Sonne Deutschlands, für beide Teams geht es jetzt schon ums blanke Überleben, wer verliert ist so gut wie draußen, der Gewinner darf noch ein wenig hoffen.
Egal, wie ich es drehe und wende und wie wichtig gerade dieses Spiel ist, ich muss arbeiten und schaffe es, Mitte der ersten Halbzeit gerade mal, das Zwischenergebnis zu erfassen. Albanien führt 1:0. Erst etwa eine halbe Stunde vor Spielschluss komme ich zu Hause an und kann mich dem Spiel widmen.
Es steht immer noch 1:0. Modric treibt die Seinen unermüdlich an, mit seinen 38 Lenzen auf dem Buckel. Die Albaner machen einen zunehmend erschöpften Eindruck. Konterchancen werden nicht mehr richtig abgeschlossen, Abschlüsse sind so kraftlos, dass sie vor der Torlinie verhungern würden. Ich gebe den Adlern (auf albanisch: shqip) nicht mehr lange. Bei welchen Vereinen mögen die Spieler ihrem Beruf nachgehen, in welchen Ligen? Wahrscheinlich sind sie das hohe Tempo nicht gewohnt, das so ein Fußball-Methusalem wie Modric beliebig hochdrehen kann.
Kramarić, wer sonst?
Kramarić, natürlich, wer sonst, macht den Ausgleich. Er wird im Sechzehner (Fußball-Neudeutsch: „die Box“) angespielt, ich denke, warum verzögert er den Abschluss, jetzt ist die Chance wieder vorbei, da schiebt er in perfekter Gerd-Müller-Manier dem Gegenspieler den Ball durch die Beine am verdutzten Torwart vorbei in die Maschen. Kramarić, der seit ich ihn auf dem Schirm habe, die Farben der Spvgg. Hoffenheim trägt (Blau-Weiß, oder nicht?). Andere hätten an seiner Stelle schon drei Mal den Verein gewechselt, doch nicht er. Es scheint dort schön zu sein, im Kraichgau, wo der Hopp seine SAP-Milliarden in nachhaltige Projekte anlegt.
Kein Grund, weiter darüber nachzusinnen, die „Skipetaren“, wie sie bei Karl May noch heißen, bekommen es nicht richtig verteidigt und der gerade eingewechselte Klaus Gjasula lenkt den Abpraller des auf der Torlinie geretteten Schusses hinter dieselbe, ein Billard-Flipper-Eigentor, dessen ganze Tragik erst in der Zeitlupe sichtbar wird. Der Klaus aus Norddeutschland, früher mal beim HSV tätig, macht genau dort weiter, wo sein ex-Verein seit Jahren jede Saison endet. Die Kroaten bleiben zunächst am Drücker und drängen auf die Entscheidung. Jetzt wird das Spiel hochklassig und spannend, Fehler auf beiden Seiten fördern ein heftiges Hin- und Her. Frische Kräfte machen den lahmen Adlerflügeln Beine (der Stilkritiker: kühne Metapher! oder eher schiefes Bild?), jetzt wird mit allen Mitteln gekämpft, es häufen sich die Kopfschüsse, die zum Glück aber noch nicht rollen.
Der Balkan von seiner typischen Seite
Das ist der Balkan in seiner ganzen Größe: Wahnsinn, Gewalt und am Ende: großer Kitsch! Die Nachspielzeit bricht an, wieder hat Albanien die riesige Ausgleichschance und vergibt, wie gegen Italien. Diesmal gibt es sechs Minuten zusätzlich und es ist, ja wer soll es auch anders sein?, Klaus Gjasula, der einen leicht abgefälschten Pass aus wenigen Metern ins Netz schiebt. Wegen der vielen Unterbrechungen lässt der Pfeifenmann nach den zusätzlich sechs Minuten noch drei obendrauf spielen und beide Mannschaften haben noch Chancen, das Spiel für sich zu entscheiden. Es bleibt aber beim Unentschieden, was keinem der beiden so recht weiterhilft.
Ich laufe schnell zur Schule meiner Tochter, um sie dort abzuholen, treffe dabei ihre Mutter, die tatsächlich darüber informiert ist, dass ihr Heimatland gespielt hat. Voll Schadenfreude kommentiert sie die 3:0 Niederlage gegen Spanien und hofft, dass ihre albanische Freundin sich ärgert, dass Albanien nicht gewonnen hat. Mir sind diese emotionalen Gemengelage egal, ich habe noch anderes zu tun, nämlich zu arbeiten – und das, während Deutschland spielt.
Keine zeitversetzte live-Übertragung
Soll ich nun das Spiel ganz verpassen oder vor dem Unterrichtsbeginn ein wenig schauen und den Schluss anschließend? Die Situation ergibt ein gestückeltes Schauen. Während ich darauf warte, dass mein Raum frei wird, sehe ich etwas in der ersten Hälfte, vor allem gleich mal den Führungstreffer, den Gündogan mit einem harmlosen Rempler an Willi Orban einleitet. Doch gleich darauf greifen die Ungarn an, sie spielen nicht mehr diesen Gulasch-Catenaccio von der letzten Eh-Em und bekommen einen Freistoß aus vielversprechender Position. Szoboszlai zirkelt ihn gekonnt in den linken Winkel, doch Neuer ist mit Mühe da, lässt aber den Ball schlapp herunterfallen. Deutsche Verteidiger müssen das Unheil verhindern, ehe Neuer etwas unbeholfen den Ball über die Außenlinie schießt. In der Nahaufnahme sieht man, wie Kimmich, der als nominaler rechter Verteidiger tatsächlich auch mal im Brennpunkt vor dem eigenen Tor auftaucht, Neuer an den Haaren packt und schüttelt. Eine Geste der Anerkennung kann ich darin nicht erkennen.
Deutschland-Ungarn II
Muss dann abschalten und mich meinem Beruf widmen, etwa eine Stunde später kann ich wieder einsteigen, gerade muss das 2:0 gefallen sein, da schießt Neuer wieder einen Bock, lässt den Ball nach einer abgefangenen Flanke fallen. Zum Glück ist niemand geistesgegenwärtig genug, ihn über die Torlinie zu bugsieren. Souverän sieht das alles nicht mehr aus, was der Neuer da in und vor seinem Kasten treibt. Ohne etwas beschwören zu wollen, das geht aber nicht immer glimpflich aus.
Ich komme nach Hause, habe gerade noch Zeit, die erste halbe Stunde von Kroatien gegen Albanien zu schauen, dann muss ich zu Schottland gegen die Schweiz.
Die Ästhetik des Mangels
Hand auf's Herz, wenn das Tschechische Fernsehen die Aufzeichnung des Deutschland-Spiels in seiner Mediathek schon bereitgestellt hätte, hätte ich sie mir stattdessen angesehen? So rede ich mir das live-Spiel interessant; sind die Schotten wirklich so schlecht, wie ich vermute? Ist es aber bei diesem Turnier nicht gerade so, dass die schlechtesten Mannschaften die besten Spiele abliefern? Liegt denn das Wesen der Schönheit nicht gerade in der Unvollkommenheit? Ist nicht gerade die Vollendung Garant für die Langeweile, während der Schönheitsfehler, der Makel die Vorstellung herauskitzeln, was alles mögliche wäre, ohne dass dieser unendliche Raum der Vorstellung des Möglichen, aber nicht Wirklichen, jemals der harten Prüfung der Realität unterzogen würde? Und werden wir Menschen uns unserer Beschränktheit nicht gerade in den Momenten bewusst, wenn wir das sehen, was wir für unmöglich gehalten haben?
Das Mögliche in Unvorstellbaren
Schottland ist genau die richtige Mannschaft für meine Theorie und die erste Halbzeit entschädigt mich für meine Beharrlichkeit. Tatsächlich bringen die Schotten, die übrigens in normalen kurzen Sporthosen und nicht in Röcken spielen, direkte Ballstafetten über ein paar Stationen hin. Sie versuchen, kontinentalen Fußball zu spielen und bis auf ein paar Rückpässe zum Torwart, die weit an dessen Wirkungskreis vorbei im Aus landen, sieht das ganz gefällig aus. Einmal schaffen sie es sogar, über die linke Außenbahn und einem Pass vor den Fünfmeterraum bis zur letzten Station. Der Abschluss, na ja, das üben wir... Tor. Torwart Sommer kniet bereits mit offenen Armen, um das Kind, äh, den Ball an seine Brust zu drücken, da spritzt Schär dazwischen, der die Dramatik der Szene schlicht falsch einschätzt, und jagt den Ball ins Tordreieck. Fantastische Szene!
Das gibt den Schotten Auftrieb und wenn's dem Esel zu gut geht, ja, dann versucht er sich von der eigenen Eckfahne freizuspielen. Der Querpass vor den Sechzehnmeterraum landet nur im sehr freien Raum, in den Shaqiri einläuft und mit den Ball direkt in den Winkel schlenzt. Ein Traumtor! Ich will nicht sagen, dass die zweite Hälfte keine weiteren Fehler geboten hätte – weit gefehlt -, allein die Augen wurden schwerer und schwerer und das Spektakel entflieht meinem Bewusstsein. Ich schleppe mich gerade noch über den Schlusspfiff und gehe umgehend ins Bett.
Am nächsten Tag spüre ich, mir stecken bereits 15 Spiele in den Knochen und ich muss Slowenien – Serbien auslassen.