Die EM beginnt, ich bin nicht in Prag und der Tag endet mit einem Desaster. Anders kann ich es nicht zusammenfassen, denn auch eine intensive sms-Korrespondenz mit meinem ehemaligen Wunsch-Domizil an der Moldau hat nicht geholfen. Doch der Reihe nach.
Alles ging schief. Widrige Umstände im Februar (!) sorgten dafür, dass ich nicht wie erhofft rechtzeitig zur EM in der Goldenen Stadt eintrudeln kann, um mich dort wieder an die Zivilisation und eine normale europäische Gesellschaft zu gewöhnen. Stattdessen wohne ich immer noch in zwei Ländern gleichzeitig, in der Republika i Kosoves (man verschone mich mit Sonderzeichen auf dem letzten e) und in Srbija (die kyrillische Variante denke man sich einfach hinzu). Was also tun? Ich beschließe, den Abend zwischen beiden Ländern zu teilen.
Fußball unter Polizeischutz
Zumindest Tag 1 ist gerettet, ich verabrede mich mit einem holländischen Bekannten, der gleichzeitig auch Griechenland-Experte ist. Wir gehen auf Nummer sicher und gehen in die Bar 91, direkt neben der Polizei, wo sogar in der Sommer- und Winterpause Fußball gezeigt wird. Noch auf dem Weg dorthin ruft mich mein Bekannter an und hält mich zur Eile an. Ich befürchte bereits einen Massenandrang, die EM soll ja die europäischen Völker zusammenbringen, und lege tatsächlich einen Zahn zu. Doch Eile ist eigentlich nicht geboten, im Gegenteil, das geräumige Lokal im englischen Pub-Stil ist halbleer. Im Nichtraucher-Flügel hängt eine polnische Fahne und im Verlaufe der Eröffnungszeremonie füllt sich der lange Tisch sogar mit Polen. Hans, mein holländischer Bekannter, erklärt mir, dass der Lokalbesitzer ihn von dort in die andere Ecke wegkomplimentiert hat, dort dürfen nur Polen hin. Die Segregation im Kosovo funktioniert also immer noch reibungslos. Von wegen, Völker vereint euch! Die nächste Überraschung, ich frage nach Bier, doch das an der Tafel angeführte Veltins oder Krombacher ist nicht mehr im Angebot. Nur das einheimische Bier, Peja. Ich habe es nach anfänglichen Versuchen aufgegeben, das zu trinken, es widersteht meinem Gaumen einfach. Also entscheide ich mich für Mineralwasser. Wir schauen auf einen Plasma-Bildschirm, nebenan läuft auch noch dieser Sport, der mit einem Ei, vielen Männern und im Matsch gespielt wird, den verfolgen tatsächlich auch noch ein paar Iren. Es sieht aus, als wollten ein paar Dorfjugendliche Fußball versuchen, ohne jedoch aufhören zu können, dem steinzeitlichen Instinkt zu entsagen, immer wieder die Hände zu benutzen und die Gegner herumzuschubsen.
Es gibt kein Bier auf …
Dann endlich beginnt die EM, der Kellner bringt missmutig ein Fläschchen Mineralwasser. Meine entschiedene Ablehnung des heimischen Biers hat ihn wohl verstimmt. Wie die Serben behaupten, war das durchaus noch trinkbar, früher, als alle die Stadt noch als Pec (wieder ein Sonderzeichen auf dem c, so dass man es als Pehtch ausspricht; nicht aber zu verwechseln mit dem ungarischen Pécs, also Fünfkirchen) kannten, war das Bier auch besser, doch heute ist es nur noch ein abgestandener Abschaum aus jenen Tagen, wie eigentlich so ziemlich alles, was die Albaner übernommen haben (Achtung: serbische Sicht! Die albanische Sicht besagt, dass die Serben alles kaputtgemacht haben. Meine Sicht besagt: Wer die Verantwortung trägt, ist mir schnurz. Vielleicht sollte man sich einfach bemühen, es zu verbessern?). Mir ist der Name der Stadt und des Biers aber reichlich egal, wie auch das Bier, das für meinen Geschmack einfach zu mild ist, Hans hingegen, wie er sagt, weil er wohl Holländer ist, ganz gut mundet.
Die Gruppe der Paradoxe
Nun endlich zum Fußball, zur Gruppe A, meiner Meinung nach der interessantesten Gruppe des gesamten Turniers. Zweieindrittel ehemalige Europameister in einer Gruppe versammelt, das hat es noch nie gegeben! In Zahlen: (1960 + 1976 + 2004 – 1991) / Geschichtsfaktor x = 2 1/3. Um die Favoritenrolle auszurechnen, müsste allerdings der Heimbonus, der sich aber auch als Malus erweisen kann, taxiert werden, der Erwartungsdruck zu Hause (wie sehr beflügelt oder entlastet die Eishockey-WM vom Siegesdruck), die Kompensationsaussichten bei den Olympischen Spielen sowie etwaig anstehende politische Krisen. Dieses nicht leicht zu durchschauende Gemengelage hat sogar dazu geführt, dass das kroatische Fachblatt Jutarnji List in seiner Sonderausgabe Totalni vodič za EURO (samo 9,90kn), das ich mir in einer abenteuerlichen Fahrt eine Woche vor Anstoß eigens in Dubrovnik (hin und zurück ca. 1000km) besorgt habe, davon ausgeht, dass drei Mannschaften die Gruppenphase überstehen.
Verirrte Torhüter und Rugby-Spieler
Zwei davon treffen gleich zum Auftakt aufeinander, Polen und Griechenland. In den Vordergrund spielt sich aber zunächst der spanische Schiedsrichter mit einer Reihe von fragwürdigen Entscheidungen, alle zu Ungunsten der Griechen. Er scheint sich an ihnen dafür zu rächen, dass die Lehren derer de facto Staatspleite, die nur ein wenig verschleppt wird, für Spaniens Wirtschaftskrise gezogen werden. Deshalb schickt er nach gut einer halben Stunde das Hirn der griechischen Mannschaft, Sokrates, vom Feld, nach einer völlig überzogenen gelben Karte (war das überhaupt ein Foul?) und nachdem ein polnischer Angreifer in den Verteidiger hineingestolpert ist. Gut, zwischendurch fällt auch noch das vielumjubelte 1:0 (zumindest im anderen Flügel des Lokals), Papadopoulos 1 verletzt sich ohne gegnerische Einwirkung und muss das Feld verlassen. Papadopoulos 2 sprintete schnell vom Rugby-Feld ins Fußballstadion, zieht sich ein anderes Trikot an, lässt sich noch ein Mal an die Sache mit den Händen erinnern und führte sich gleich gut ein. Wir kennen das Gesicht ja aus Schalke, er ist sicher besonders motiviert gegen den Dortmunder Lewandowski. So motiviert, dass er mit seiner ersten Aktion beinahe einen Scorer-Punkt erzielt (allerdings auf der Minus-Seite), aber „Kuba“ (im Pass steht immer noch Baluszczewski, warum eigentlich?), der andere Dortmunder ist es, so glaube ich, kann mit der Vorlage nichts anfangen. Also weiterhin 1:0.
Bildausfall und „jeszcze jeden“
In der Halbzeit fällt dann auch noch das Programm aus, der österreichische Sender wird zehn Minuten später durch einen albanischen ersetzt, die Stimmung in der polnischen Ecke ist gut, wenn auch keineswegs entspannt oder locker. Zwei Einheimische, davon einer langhaarig (!), verlassen ihren Tisch nebenan, einem von beiden hat wohl das Peja-Bier auch nicht geschmeckt, an seinem halben Liter hat er bloß genippt. Kann ich gut nachvollziehen. Mit dem Anpfiff zur zweiten Hälfte scheinen dann auch die Polen allmählich in Stimmung zu geraten, sie skandieren herzhaft drei Mal „jeszcze jeden“ und wollen damit ein Tor provozieren, dass dann allerdings die Griechen in Unterzahl schießen. Dabei sieht Torwarttalent Szczesny genauso unglücklich aus wie sein griechisches Pendant beim ersten Tor, nämlich vor allem ein wenig desorientiert vor seinem Fünfmeterraum herumirrend. Hans und ich gönnen es den Griechen herzlich, denn die spielen keineswegs so defensiv und destruktiv wie befürchtet. Fast kommt es noch besser, den Szczesny hat wirklich keinen guten Tag erwischt, haut nach einem langen Ball den allein vor ihm auftauchenden griechischen Stürmer, wahrscheinlich wohl Gekas, überhastet um und kassiert eine rote Karte und einen Elfmeter. Das könnte das Ende des Turniers für ihn sein. Doch Käptn Karagounis verzichtete großzügig auf die Führung wie der griechische Staat auf sein Steuerrecht, was wiederum die polnische Ecke zum Jubeln bringt. (Wenn die dafür mal nicht noch zur Kasse gebeten werden…) Am Nebentisch unterhält sich die zwischenzeitlich ausgewechselte Truppe in einem für den Balkan typischen Gemisch aus Deutsch, Niederländisch und Englisch gerade über so langweilige Themen wie Menschenrechte, Unfähigkeit, Vetternwirtschaft, Behinderung…, ach ja, das übliche, wenn es darum geht, warum all die ambitiösen internationalen Projekte zur Implementierung von diesem und jenem in dieser Region nicht so recht voranzukommen scheinen. Ich kann es nicht mehr hören, da ja eh niemand die einfachste und einleuchtendste Antwort akzeptiert: Weil die Leute vor Ort das halt nicht wollen. Weil sie davon keine Vorteile haben. Und die Jobs für Ortskräfte auch nur so lange, wie das Projekt läuft, nicht aber, wenn es abgeschlossen ist.
Läuft alles mit rechten Dingen?
Hans ist gerade auf dem Weg zur Toilette, als die Griechen, wieder nach einem langen Ball, dem neuen polnischen Torwart ein astreines Tor einschenken, angeblich aber aus einer Abseitsposition. Hans kennt den Torwart irgendwoher und ich recherchiere später tatsächlich, dass er sein Geld in der Eeredivison (falls es falsch geschrieben ist: nemt it mij nit kwalik, oder so… keine Absicht) verdient. Das qualifiziert Hans auf jeden Fall als Experten für den folgenden Tag, ich freue mich bereits darauf.
Nun, eine rote Karte, eine gelb-rote, ein verschossener Elfmeter, einige fragwürdige Schiedsrichterentscheidungen und ein munteres Spiel, das lässt sich für den Auftakt so gut an, dass die Polen mit einer Runde Wodka anstoßen. Ich verabschiede mich und begebe mich von Prishtina aus nach Srbija, genauer in die serbische Enklave Gracanica (Sonderzeichen: s.o.), weil ich das Tschechen-Spiel nun doch in Begleitung von Bierkonsum erleben möchte.
Pils Plus zur Wettquoten-Schau
In Dschengis Pub läuft aber zu meinem Entsetzen Basketball, Crvna Zvezda gegen Partizan, ich sehe meine Felle bereits davonschwimmen. Auf mein Fragen erhalte ich aber dann doch Fußball, da sonst niemand im Pub den Bildschirm verfolgt. Zunächst jedoch ohne Ton, mit Raggamuffin-Soft-Berieselung, egal, ich habe die tschechisch Nationalhymne voller Vorfreude bereits im Auto skandiert. „Kde domov můj: Voda hučí po skalinách, bory šumí v lučinách (oder war es umgekehrt?), v sadě skví se jara květ, zemský raj to na pohled, a čí ta krasná země, země česká, domov můj, země česká, domov můj…“ Auf meine erst sms-Anfrage erhalte ich aus Prag folgende Antwort: „Ahoj Gerde, diky, za chvili razim, jasne ze ty Putinovy vyzirky a prizdisrace rozemelem na kasi!Death to Russia, nedavaj to tam cist:).P.“ Wen hätte ich diese Nachricht dort auch lesen lassen können?
Die alten Sympathie- und Antipathie-Reflexe scheinen also in Prag noch zu funktionieren. In Srbija allerdings auch, denn der schließlich hinzugekommene Bar-Besitzer bejubelt lautstark das früh fallende erste russische Tor. Der Kellner macht ihn darauf aufmerksam, dass ich Tschechien die Daumen drücke. Ich erkläre das mit meiner Prager Vergangenheit und erhalte Absolution. Drei Kreuze nach orthodoxer Art: Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand ausgestreckt auf den Daumen legen, damit Stirn, Bauch, rechte Schulter und dann linke Schulter in rascher Abfolge berühren. Zumindest habe ich mein Pils Plus, ein serbisches Bier, das Mitglied einer niederländischen Brauerei-Gruppe ist und seitdem wesentlich besser schmeckt als früher, wie man mir sagte, und irgendwann auch ein wenig Original-Ton mit serbischem Kommentar. Der „Pub“ dient aber nicht so sehr als Gasthaus - viele Gäste sind eh nicht da - sondern als „kladionica“ (Wettbüro), wie mir spätestens klar wird, als der Besitzer alle drei, vier Minuten die Videotext-Seiten mit den Quoten überprüft, egal, wo der Ball gerade rollt. Zwischendurch erscheint auch ein Mann im jüngeren mittleren Alter, natürlich im Jogging-Anzug, mit Kleinkind an der Hand, um kurz etwas mitzuteilen, dem Tonfall nach nichts Freundliches. Wahrscheinlich seine Meinung dazu, dass er gerade Haus und Hof verspielt hat und wer daran die Schuld trägt. Er selbst sicherlich nicht.
Prager Frühling schnell erstickt
Nach dem zweiten russischen Tor wünsche ich per sms noch ein herzhaftes „kurva“ nach Prag und bestellte mir zu dem Pils Plus bereits den ersten Schnaps, Dunja-Rakija (Quittenschnaps).
Auch das Fiebern mit dem kruzen Prager Frühling in der zweiten Hälfte hilft nichts, die russischen Tanks ersticken das ganz schnell. Der zweite holländische Trainer hintereinander hat den Sturm tatsächlich richtig beweglich eingestellt, sogar solche in der Bundeliga gescheiterte Spieler wie Pawel Pogrebnijak (Spitzname: Totengräber seiner Vorlagengeber) machen darin eine gute Figur. Nicht mal das tschechische Tor mit dem letzten Spielzug findet Anerkennung. Viereins, das ist deutlich, ich sende eine Trost-sms nach Prag und erhalte folgende Antwort: „Hlavu vzhuru, genau. Zlom vaz, ja se jedu nechat sezrat medvedama na Slovensku. Ten futbal pekna bida, rusaci zamrdany, P.“
Das kroatische Fachblatt Jutarnji list scheint doch Recht zu haben, da es als einzigen den Tschechen kein Weiterkommen aus der Gruppe zutraut und vor allem die Qualitäten von Trainer Michal Bílek anzweifelt. Ich zitiere: „Mnogi misle da nije dobar motivator, da mu nedostaje osobnosti, da mu je momčad predefanzivna“. Die Prognose lautet: „Češka neće proći skupinu. Izgubit će od vrlo ambiciozne Rusije i domaćina Poljske, a remizirat će tek s Grćkom…“ Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Außer zwei Spielen. Nur so, zur Bestätigung.