Prag - Tag 24: Es ist ein angenehmer Sonntag, der durch kein Fußballspiel unterbrochen wird. Ich widme mich wie viele andere auch der Familie, speziell: meiner Lebensbegleiterin und deren Familie, zumindest dem weiblichen Teil davon. Wir sitzen also im Garten und grillen, ich trinke später Bier.
Und da das Herkunftsland meiner Lebensbegleiterin sich nicht qualifizieren konnte, interessiert sich eigentlich niemand wirklich für die WM. Statt ihrer haben sich die Einheimischen qualifiziert, was ich seinerzeit mit einem lachenden und weinenden Auge kommentiert habe. Einerseits ist es schöner, in einem Land die WM zu verfolgen, das auch involviert ist. Andererseits ist das Interesse der Einheimischen schlagartig nach dem schmählichen Ausscheiden unter Null gefallen.
Schlechter hätte es also das Herkunftsland meiner Lebensbegleiterin auch nicht gemacht. Wahrscheinlich sogar um einiges besser. Denn sie tragen ja den Beinamen Balkan-Brasilianer. Was wiederum auch nicht mehr viel besagt, wenn ich die gezeigte Leistung Brasiliens zum Maßstab nehme. Fat Ronaldo hat zwar seine drei Törchen gemacht und damit leider unserem Bomber der Nation die WM-Torjägerkrone gemopst. Doch können Sie sich an eine einzige wirkliche großartige Aktion von Ronaldinho - also little Ronaldo - erinnern? Ich nicht und damit ist doch alles gesagt.
War Ronaldinho wirklich dabei?
Nein, natürlich nicht, sonst wäre der Tagebucheintrag doch allzu kurz. Zu kurz, das ist das Thema, um wieder ein Loblied auf Zinedine Zidane anzustimmen. Er war nie besser als in dem Viertelfinalspiel gegen Brasilien. Der eindeutige Herrscher im Mittelfeld. Wenn jemand brasilianisch gespielt hat, dann er. Jetzt kommt es im Halbfinale zum interessanten Vergleich mit Luis Figo, einem anderen großen alten Spieler, der sichtlich überrascht hat.
Enttäuscht hat ja wieder einmal England - insbesondere seine Fans. Cole, Cole, Terry, Beckham, Gerrard, Lampard, Rooney: Sie haben sich alle nur als große Namen erwiesen, die kein großes Team bilden. Spieler, die in einer Woche mehr verdienen als ich wahrscheinlich in meinem ganzen Leben sind nicht fähig, aus elf Metern einen Ball rein zu hauen. Und das notorisch, seit ca. 1864, als die englische Fußball Föderation das Spielfeld um zwei weiße Punkte ergänzt hat.
Wie kommt die Kreide auf den Punkt?
Mir ist es ja bis heute rätselhaft, wie die Platzwarte den Elfmeterpunkt markieren. Bei den Linien ist das ja klar, sie ziehen sie mit ihrem Wägelchen. Die Linien sind ja auch alle miteinander verbunden. Nur der Elfmeterpunkt eben nicht. Der liegt quasi im Freien. Also hängt in der Luft, also, na, Sie wissen schon
Während ich so meinen Gedanken nachhänge, beschäftigt sich die Familie meiner Lebensbegleiterin mit dem Hund. Sie bereiten mehrere Schüsseln mit Wasser vor. Jetzt wird´s bestimmt so wild wie bei Holland-Portugal, freue ich mich schon. Doch der slowakische Hirtenhund lässt die Waschungen mit einer erstaunlichen Ruhe über sich ergehen. Dann wird er einshamponiert, bekommt Lockenwickler und muss für eine Viertelstunde unter die Trockenhaube. Anschließend darf er sich - wenn er will - im Sandhaufen wälzen. Doch nachdem er sich im Spiegel begutachtet hat, zieht er es vor, sich in die Sonne zu legen.
Zu meinem Erstaunen erfahre ich, dass er nur einmal im Jahr gewaschen wird. Ich denke mir, wie praktisch das wäre, wenn das bei mir auch ginge. Und summe den alten Fußballhit „Ohne Holland fahr´n wir nach Berlin“ vor mich hin. Herrlich, so ein fußballfreier Sonntag. Das sollte man öfter machen.
Sollte eine Kurzmitteilung verloren gegangen sein?
Dann wird´s mir langweilig. Schicke einem Freund eine Kurzmitteilung per tragbarem Telefon in meiner frühere Wahlheimat. Frage, ob ihn die WM immer noch so ankotzt. Doch ich glaube, der Spuk ist dort vorbei, das Achtelfinalspiel zwischen Ukraine und der Schweiz (ich geb´s zu, ich habe nachgeschaut) hat der Stadt den Rest gegeben. Nach dem Gegurke ist selbst den lebenslustigen und frohsinnsbejahenden Einwohnern der Stadt das Lachen vergangen. Habe bislang noch keine Antwort erhalten - ob ich da einen Nerv getroffen habe?
Den späteren Nachmittag lese ich tatsächlich ein Buch. Meine Lebensbegleiterin hat mit ihrer Mutter ein nahes Einkaufsparadies auf der grünen Wiese aufgesucht. Und ganz alleine im Garten wird mir doch langweilig. Tja, hier in diesem Land geht so etwas am Sonntag. Hier gibt es nämlich kein Ladenschlussgesetz, hier kann man sich auch am Endspieltag noch einen Fernseher kaufen, wenn der alte kaputt geht.
Brieftauben und Fußball
Ich sollte vielleicht noch von dem Buch erzählen, es wurde von einem sehr populären einheimischen Autor geschrieben, der leider ein Jahr nachdem Deutschland die Einheimischen im EM-Finale geschlagen hat, verstorben ist. Verstorben - er ist im Krankenhaus aus dem Fenster gefallen, die Legende will es so, dass dies beim Füttern seiner geliebten Brieftauben geschehen sei.
Tauben spielen in seiner Prosa ja stets eine wichtige Rolle. Tauben spielten auch im frühen Fußball eine wichtige Rolle, sie haben nämlich die Ergebnisse der ersten Profiliga Englands in die Wettbüros geflogen. Um die Konzession für ein Wettbüro zu erhalten, musste man in jener Zeit tatsächlich ein staatlich anerkannter Brieftaubenzüchter mit einem beglaubigten Bestand von nicht weniger als fünf Täuberichen und fünfzig Tauben sein.
Kein Wunder also, dass es früher im Ruhrgebiet eigentlich nur zwei Steckenpferde gab: Fußball spielen wenn man jung ist, Fußball schauen, wenn man alt ist. Und dann kann man aktiv Brieftauben züchten. Die erfolgreichsten Züchter haben Informationen über die gegnerische Taktik noch während des Spiels an den eigenen Trainer übermittelt! Ja, damals gab es noch kein Internet, da konnte man von der gegenüberliegenden Eckfahne nicht schnell mal eine E-Mail an den Co-Trainer schicken, er solle doch mal den Mann mit der Wasserflasche vorbeischicken. Das haben damals alles Brieftauben gemacht.
Eine spezielle Züchtung - die sogenannte Gerolsteiner-Taube - war etwas kräftiger, dafür aber nicht so ausdauernd. Ihr konnte man auf den Botenflügen gleich eine Sprudelflasche um den Hals hängen. Leider hat der DFB das dann verboten, weil die gegnerischen Fans ständig mit Luftgewehren auf die Tauben geschossen haben. Und das macht ja dann keinen Spaß mehr. Du denkst, du trittst jetzt einen weiten Pass auf den eigenen Linksaußen, dann fällt dir so ein toter Vogel vor die Schlappen und du trittst ihm den Kopf weg. Ne, das war schon besser so. Ja, aber auch diese Erzählung geht ein Mal zu Ende. Ich glaube, der Held stirbt am Ende. Es wird auch kühl, ich wechsle ins Fernsehzimmer.
Als ich durch die Fernsehkanäle blättere, kann ich überhaupt keinen Fußball finden. Seltsam, dabei ist doch WM und Unsrige sind noch nicht ausgeschieden. (Im Gegensatz zu so vielen anderen, die ich aus Platzgründen nicht alle aufzählen will). Da gibt es doch immer etwas Interessantes zu berichten.
Selbst der Spartensender Deutsches Sport Fernsehen bietet nichts an, stattdessen zeigen sie Szenen aus einem Kneipenduell im Pfeile werfen! Und das auf eine Zielscheibe, nicht etwa auf Luftballons oder Dosen. Verrückt, was sich die Leute alles anschauen und viel mehr noch, wofür sich manche interessieren! Dabei gibt es doch Fußball.
Ihr deutscher WM-Beobachter in Prag