Sensationell wirft die Slowakei Weltmeister Italien aus dem Turnier, mitten drin in der kreischenden Menge Gerd Lemke.
Nun ist es also so weit. Die Slowaken bestreiten ihr letztes Gruppenspiel und es geht um alles oder nichts. Eigentlich geht es um viel mehr, es geht um die Bestätigung der jüngst gewonnenen Souveränität, um das Selbstbewusstsein des mitteleuropäischen Tigers und vor allem geht es um eins: um den Nachweis der eigenen Geschichte. Italien als Gegner ist nicht so wichtig, aber es sind diese verhassten Farben Italiens, nämlich die Farben Ungarns. Seit ca. tausend Jahren erwehren sich die Slowaken, die Nachfahren des Großmährischen Reiches östlich der Morava, dem Machtanspruch der Ungarn, sinniere ich. Währenddessen erhalte ich Post von der FIFA, Abteilung Schutz des Markenrechts, nicht etwa des Menschenrechts, nein, des Markenrechts. In strengem Ton werde ich darauf hingewiesen, dass es nicht Hyundai Fun Park heißt, mit fun, laut Horkheimer und Adorno sowieso ein Stahlbad (siehe: Dialektik der Aufklärung), hat die Fanmeile auf dem náměstí Hyundai Fan Pack nichts zu tun. Sollte ich noch ein Mal den Namen des Herren falsch gebrauchen, werde ich von der WM ausgeschlossen und darf kein einziges Spiel mehr live sehen, geschweige denn kommentieren.
Geschockt wende ich mich wieder dem Spiel der Spiele zu. Als die Ungarn vor etwas mehr als eintausend Jahren in die pannonische Tiefebene vordrangen, fanden sie dort eine alles andere als geeinte und in einem Verbund gut organisierte, kurz wehrhafte Bevölkerung vor. Das machte es dem Reitervolk von jenseits des Urals leicht, sich dort festzusetzen und durchzusetzen. Dem Drang der Ungarn setzten erst die bayerisch-österreichischen Truppen bei der Schlacht auf dem Lechfeld ein Ende, hier war dann Schluss. Gemäß dem alten Grundsatz, if you can’t beat them, join them, paktierte der ungarische König anschließend mit den Deutschen und sicherte diese Verbindung mit einer klugen Heiratspolitik ab.
Einer weiteren Expansion nach Westen waren also Grenzen gesetzt, deshalb konzentrierte sich die ungarische Politik anschließend darauf, das eigene Gebiet abzusichern, auf dem Dutzende slawischer Völker lebten. Im Norden Groß-Ungarns, jenseits der Donau, bildeten Gebirge wie die Hohe Tatra eine natürliche Grenze. Mehr und mehr setzten die Ungarn sich in der fruchtbaren Ebene fest, gründeten ihre Krönungsstadt Pozsony und führten überhaupt ein lustiges Leben in Oberungarn. Dann luden sie im 14. Jhr. etwa Deutsche ein, die in den Silberbergwerken das Edelmetall vergolden sollten. Die Deutschen taten, wie es nun einmal so Brauch ist bei ihnen, gleich wesentlich mehr und organisierten – auch dank diverser Privilegien, Stichwort Marktrecht – den Handel und das städtische Leben.
Und die Slowaken? Sie fanden sich mehr und mehr zurückgedrängt in ihre Berge und auf ihre Dörfer. Dazu kam noch, sinniere ich, dass ihre Sprache zunehmend unterdrückt wurde, die Magyarisierung – und hier überspringe ich kurz ein paar Jahrhunderte – setzte mit dem Bildungssystem ein. Kein Wunder also, sinniere ich, dass es im Spiel gegen die verhassten Farben, die zufällig eben auch Italien besitzt, um viel, viel mehr geht als um Fußball.
Ich bereite mich gründlich vor und esse ein Schälchen halászlé, das ist die berühmte ungarische Fischsuppe (man koche mehrere Stunden einen Fischsud aus Fischköpfen, -schwänzen etc. mit Zwiebeln und einer geschälten Tomate, ich nehme allerdings immer vier; den Sud siebe man gründlich ab, gebe dann Festfisch dazu, nach belieben noch weiteres Gemüse und Kräuter, was sich im Garten oder Kühlschrank gerade findet, und dann vor allem Unmengen Paprikapulver, scharf und süß, um die Suppe zu konservieren; je nach Menge isst man dann in der folgenden Woche nichts anderes als halászlé; Fischarten nimmt man nach belieben, traditionell, was sich in der Donau fangen lässt), die man so in der Slowakei nicht bekommt. Ihre Sprache hätten die Slowaken wahrscheinlich komplett verloren bzw. wäre sie auf dem Stand diverser Bauern-Dialekte verkümmert, wenn nicht die böhmischen Brüder zur Hilfe geeilt wären, die gerade den sprachlichen Überlebenskampf gegen das Deutsche bestritten. Es klingt paradox, doch Slowakisch war im ausgehenden 18. Jhr. tatsächlich ein tschechischer Dialekt in seinem Stadium der Standardisierung.
Im 19. Jhr. verschärfte sich der Magyarisierungsdruck, der natürlich Widerstand hervorrief. Die wenigen slowakischen Intellektuellen der Generation Ľudovít Štúr und Erben, die zum großen Teil in Deutschland bei den großen idealistischen Philosphen in die Schule gegangen waren, setzen eine eigene Sprache, auch gegen das Tschechische durch und wählten als Norm den mittelslowakischen Dialekt, der in und um Martin gesprochen wird. Dort siedelten sie auch die Matica slovenská, sozusagen den institutionalisierten Kralshüter der slowakischen Sprache und Kultur an. Denn Pozsony hieß noch immer Pressburg bzw. Prešpurk und war viel mehr eine ungarisch-deutsche denn slowakische Stadt.
Die halászlé ist mir diesmal wieder ganz hervorragend gelungen, nicht zu scharf, aber pikant, diesmal habe ich mit scharfer Paprika gegeizt, doch die bekommt man sowieso nur in Ungarn.
Gegen die verhassten ungarischen Farben, die Farben des Unterdrückers, geht es also, der sich hinter Italien verbirgt. Ich begebe mich auf den náměstí Hyundai Fan Pack (nicht: fun), für den ich die Sondergenehmigung der FIFA erwirken konnte, hinzufügen zu dürfen: früher auch als Altstädter Ringe bzw. Staroměstské náměstí bekannt. Dort bevölkert bereits ein Meer aus blaugekleideten Tifosi das Pflaster, die Slowaken ziehen sich bescheiden in den Hintergrund zurück. Dazu bietet das Spiel aber keinerlei Anlass. Marcello Lippi hat eine gewagte Taktik gewählt und bringt Gennaro Gattuso auf der Spielmacherposition (das ist genau der, der den Word Cup vor vier Jahren in der Unterhose entgegennehmen wollte). Das bereitet ihm einen generösen Abschied, doch bedeutet das für das italienische Spiel nach vorne den Kollaps.
Auch Fabio Cannevaro, einst weltbester Spieler des Jahres, wird an seinen Abschied ungern zurückdenken. Sein Gegenspieler Robert Vittek lässt ihn zwei Mal noch älter aussehen, als er eh schon ist, und netzt ein. Ja, das lernt man eben nur in der Bundesliga, und dazu noch beim Altmeister 1.FC Nürnberg. So was hat kein einziger Stürmer der Seria A drauf, die kurze Unaufmerksamkeit zielgerecht bestrafen. Italien verzweifelt, die Tifosi verlassen in Scharen den náměstí Hyundai Fan Pack aka Altstädter Ring bzw. Staroměstské náměstí, kommen aber bald wieder zurück, denn es fällt der Anschluss. Mit Andrea (trotz des Namens männlich) Pirlo kehrt die Ordnung auf den Rasen zurück und damit die Spannung ins Spiel. Dann ein Einwurf der Slowaken, der junge Janošík von Traktor Trnava, gerade zwei Minuten auf dem Platz, sprintet in die Lücke, überlupft den Torwart und wieder verlassen die Tifosi in Scharen den bereits mehrfach erwähnten Platz. Wir stehen - ein echter Fußballfan kann das Spiel eh nur im Stehen verfolgen - schreien, bangen, zittern, die Italiener gehen den slowakischen Volkshelden Mucha im Tor öfter hart an, der Schiedsrichter (in meinem Heimatort manchmal auch als Vieztrichter diffamiert) schaut bloß hilflos zu. Italien kommt noch einmal zurück, doch die Truppen des slowakischen Volksaufstandes verteidigen den knappen Sieg bis auf den letzten Mann wie einst bei der Schlacht auf dem Dukla-Pass (historisch war das natürlich ein wenig anders, aber egal) und einer in der entfesselten Menge behält kühlen Kopf und ortet mit dem Handy: Nullnull im Parallelspiel, die Slowakei steht im Achtelfinale! Ich nehme Glückwünsche der Tschechen entgegen und traue mich nicht mehr, mich als Deutscher zu outen.
Schließlich bin ich zurück in der gar nicht so kleinen Kneipe bei uns in der Straße und feiere mit dem slowakischen Koch bis spät in die Nacht, wie braten ein Wildschwein, dazu gibt es halušky, trinken Borovička und diskutieren noch lange über die Aussichten gegen Holland.
Nebenbei flimmert die Niederlage von Dänemark gegen Japan, die mich zwar überrascht, doch emotional nicht mehr mitnehmen kann. Ich bringe Martin (nicht zu verwechseln mit der Stadt, wie die Matica slovenská sitzt) den deutschen Satz bei: Wie geil ist das denn?, doch es ist uns nicht möglich, einen adäquaten Ausdruck für die mit „geil“ vage umschriebene Gefühlsäußerung zu finden, weder auf Slowakisch noch Tschechisch. Um Vorschläge wird gebeten.