Prag - Das Räderwerk der astronomischen Uhr im Rathaus auf dem Altstädter Ringplatz greift unbeirrt Zahn um Zahn ineinander, eine bunt zusammengewürfelte Menge verharrt gespannt davor, ihr Murmeln steigt an, denn zur vollen Stunde verspricht der Mechanismus ein Schauspiel, das bereits vor einigen Jahrhunderten die Menschen in seinen Bann gezogen hat, schließlich erhebt sich ein Johlen und mündet in einen brausenden Applaus. Niemand hier denkt dran, was sich nur ein paar Tausend Kilometer südwestlich von hier, jenseits des großen Teiches abspielt. Wirklich niemand?
Ich befinde mich zweieinhalb Kilometer westlich von der astronomischen Uhr und bin deshalb auch irgendwie näher dran, an dem Geschehen in Brasilien. Statt zur astronomischen Uhr gehe ich eine Treppe hinunter und haben einen Raum beinahe alleine für mich, eine Leinwand, einen Barmann und eine Serviererin. Pünktlich wie die astronomische Uhr erfolgt der Anpfiff, weltweit richten sich die Augen nach Brasilien, stellvertretend für die Goldene Stadt im Herzen Europas schaue ich. Und werde zunächst auch nicht weiter belästigt.
Spiel nicht ganz ausverkauft
Ich empfehle Mexiko, nicht mehr über den rechten Flügel und Kamerun, nicht mehr über den linken Flügel anzugreifen. Beide Trainer befolgen gottlob mehr oder weniger diesen taktischen Fingerzeig und lassen geschickt die Köpfe der Gringos umspielen.
Mexiko gegen Kamerun, das sind genau die Spiele, für die die WM da ist, wo sonst kann man solch ein Spiel sehen, dazu noch live in Ostmitteleuropa im Fernsehen? Als ich eine Nahaufnahme sehe, denke ich, et flatscht, korrigiere mich aber gleich, es gießt wie aus Eimern und nehme mir vor, meinen unzulässigen Dialekt nicht mehr zu verwenden. Mexiko ist gleich munter, macht Druck, arbeitet sich Tore heraus, doch leider, leider, sie brauchen zu viele Tore, bis sie endlich mal treffen. Nach einer halben Stunde könnten sie schon zweinull führen und sich gemütlich zurücklehnen.
Der kolumbianische Schiedsrichter macht sie aber mit der Abseitsregel vertraut: Abseits ist, wenn ich pfeife, vergesst den komplizierten Kram mit zwei Spielern vor sich, Moment der Ballabgabe und gleiche Höhe, dazu noch Sonderregelungen, wann Abseits aufgehoben ist. Fußball ist ein Spiel für einfache Gemüter und Abseits kann jeder Schiedsrichter entdecken, sogar nach einem Eckball.
Vor dem Abpfiff nicht an das nächste Spiel denken
Gegen Ende der ersten Hälfte kommt Fred in seine Kneipe, genau, Schwalben-Fred vom Eröffnungsspiel. Flüchtig schaut er auf die Leinwand und da sonst niemand da ist, fragt er mich, was ich über das Spiel später denke. Was hast du da auf dem Kopf, denke ich mir, ist das ein Vogelfänger-Hut? Ich antworte nur, keine Ahnung, denn ich schaue ja ein Spiel und halte mich an die alte Fußballregel, nicht das folgende Spiel im Kopf zu haben, wenn das derzeitige noch läuft. Alter Schwede, es muss bitter sein, wenn sich die eigene Mannschaft nicht qualifiziert hat. Fred ist dann auch schnell wieder verschwunden. Hatte bereits das nächste Spiel im Kopf. Oder das nächste Turnier. Oder was weiß ich.
Eto’o bleibt blass
Nach ’ner Stunde spielt Mexiko schnell in die Spitze, den ersten Ball wehrt der Torwart noch ab, nach vorne, dann schießt ihn der nächste Mexikaner rein. Weit und breit kein Abseits in Sicht, es wird das Tor des Tages, zumindest in diesem Spiel. Kurz darauf treffen sich zwei alte Bekannte wieder, im mexikanischen Strafraum, Marquez und Eto’o. Die Begegnung endet schmerzhaft für den Kameruner Stürmerstar, doch als sich beide wiedererkennen, Mensch waren das damals Zeiten bei Barca, geben sie sich versöhnlich die Hand. Eto’o bleibt im Spiel eher blass, natürlich nicht so blass wie sein Trainer Volker Finke, der in den 1990er Jahren die Breisgau-Brasilianer und die Kurzpass-Konfusion erfunden hat. Jetzt findet er in Deutschland keinen Job mehr, nachdem Vereine wie FC Barcelona oder jüngst Bayern München sein System bis zum Erbrechen kopiert haben.
Mexiko gewinnt verdient, wenn sie aber an Kroatien vorbei ins Achtelfinale einziehen wollen, müssen sie noch an ihrem Manko arbeiten. Sie dürfen nicht mehr so viele klare Tore vergeben. Ich verlasse die Kneipe, die sich ein wenig gefüllt hat. Eine Gruppe junger Amerikaner setzt sich instinktsicher vor die Leinwand und erzählt Unsinn. Eine Frau legt eine Schärpe an, die sich aber sicherlich nicht für ihre Schönheit bekommen hat. Ich empfehle Mexiko, nicht mehr über den rechten Flügel und Kamerun, nicht mehr über den linken Flügel anzugreifen. Beide Trainer befolgen gottlob mehr oder weniger diesen taktischen Fingerzeig und lassen geschickt die Köpfe der Gringos umspielen. Fred kehrt gegen Ende des Matches zurück, ich gehe und freue mich, dass es weder flatscht noch 36° C in der Moldaumetropole herrschen.
Dank an Holland
Van Gaal, das alte Schlitzohr, führte bei Bayern einst den Ballbesitz-Fußball ein, den sie dort immer noch zelebrieren, jetzt zeigt er seinen spanischen Meisterschülern, wo die technische Innovation liegt.
Ohne Holland fahr’n wir zur WM, so sang man einst hämisch in deutschen Landen. Ach ja, die guten, alten Zeiten, als deutsche Rumpelfüßler Titel und die Holländer Sympathien gewannen. Spiel drei der WM wird groß als Neuauflage des Finales von vier Jahren angepriesen und die Niederländer halten sich zunächst auch an diese Dramaturgie, Ellbogen in die Magengrube des Gegenspielers, Umtreten von hinten, als wollten sie nahtlos an den voetbal brutal anno 2010 anschließen. Spanien geht durch einen Elfmeter in Führung, über den man nicht zu diskutieren braucht, der Verteidiger rutscht in den Gegenspieler, der gerade einen Haken geschlagen hat, und zieht ihm das Standbein weg. Xabi Alonso nagelt das Runde ins Eckige, flach links, es reicht halt nicht für den Torwart.
Dann scheint Spanien die Sache einigermaßen im Griff zu haben, ich schreibe bereits in Gedanken, laut Buchmachern sind die Topfavoriten auf den Titel Brasilien und Argentinien, danach kommt Deutschland. Ich ersetze die Teutonen durch Spanien, das den Umbruch der Spielergeneration vielleicht hinbekommt. Es ist ja ein interessantes Spiel, mit Luis van Gaal ist genau einer der Wegbereiter des Tiki Taki – wie wir wissen, kopiert bei Finkes Breisgau-Brasilianern – und damit der spanischen Erfolge überhaupt Trainer in der Heimat. Der Prophet im eigenen Land?
Der Prophet im eigenen Land
Holland hört dann allmählich auf, den eigenen Spielstil kaputt zu treten und dann überrascht eine einzige Aktion die Hochdekorierten Ramos, Piqué und Casillas: ein langer Ball. Robin van Persie, sozialisiert bei dem gereiften Arsène Wenger und gereift bei dem späten Alex Ferguson, gestählt durch die post-Ferguson-Saison bei ManU, läuft in den lange leeren Raum und köpft über den verduzten Casillas von der Strafraumgrenze ein. Da ist er wieder, der Casillas vom Champions-League-Finale. Auf der Linie und in Eins-zu-eins-Situationen immer noch große Klasse – das zeigt er auch später noch –, im Strafraum verirrt.
Oje, Espana, oje
Die zweite Hälfte gleicht dann einem Offenbarungseid der spanischen Balltreter. Ich sitze in einem kleinen Biergarten und genieße die Großleinwand, um mich herum sind ein paar Fans, die jedes Tor der Holländer bejubeln, es sind auch, ich wiederhole, auch Deutsche darunter. Van Gaal, das alte Schlitzohr, führte bei Bayern einst den Ballbesitz-Fußball ein, den sie dort immer noch zelebrieren, jetzt zeigt er seinen spanischen Meisterschülern, wo die technische Innovation liegt. Langer Ball auf Robben, zweieins. Freistoß an den langen Pfosten, Kopfball dreieins. Das Tor hätte eigentlich nicht gegeben werden dürfen, denn van Persie ist Casillas in der Luft angegangen, aber Schwamm drüber, es ist im Turnier erst die fünfte grobe Fehlentscheidung, und das bereits im dritten Spiel. Dann verliert Casillas einen Rückpass an van Persie, nächstes Gegentor, und Robben schließt einen Pass in die Tiefe des Raums mit einem beherzten Sprint und einem Tor ab. Es sieht aus, als hätte sich van Gaal ziemlich genau angeschaut, wie Klopp Dortmund zu alter Stärke verholfen hat und wie man diesen gierigen Fußball des Ballbesitzes bekämpft.
Wie geht’s jetzt weiter mit Holland? Starten sie wieder so furios wie bei der EM 2008, um dann doch kläglich zu scheitern? Was ist mit Spanien, sie steigen ja generell etwas schleppend ins Turnier ein, um am Ende zu gewinnen. Auf jeden Fall, tolles Spiel, tolle Tore, dank u well, Holland.
Spätspiel mit frühen Toren
Der Biergarten bietet auch wegen des zu kühlen Wetters leider keine Option für das Spätspiel, das zum ersten Mal bei der WM stattfindet. Das stellt mich vor eine logistische Aufgabe, ich entscheide mich für eine bettnahe Spätkneipe, wo sich mir zwei Iren anschließen. Fred’s Barmannschaft ist gegenüber Fußballfans unzugänglich, Mitternacht ist Schluss. Als die Iren von ihrem letzten Bier in Fred’s Bar herüberkommen, hat Chile bereits seinen Budenzauber aus- und wieder eingepackt. Sie überfallen Australien, schenken ihnen zwei Buden ein und verwalten anschließend das Ergebnis. Ich erfahre von den beiden Iren viel Wissensunwertes über australische Fußballer mit kroatischen Namen und denjenigen, die in der englischen Prämien-Liga spielen. Australien kämpft sich wieder heran, hohe Flanke von rechts, Kopfball von Cahil – ein irischer Name -, nebenan erklärt ein Rocker die Welt und wie Klopp in Düsseldorf eine Wunderwaffe gegen die spanische Kurzpassfolter entwickelt hat. Ich bin dem Herrn, der durchaus nicht ohne Kenntnisse ist, bereits einige Male begegnet und habe es meist hinterher bedauert, dass ich die böhmische Sprache erlernt habe. Es ist nicht mehr möglich, nicht mehr hinzuhören.
Chile verwaltet in der zweiten Hälfte verbissen seinen Vorsprung, Australien kämpft mit dem Mute und den Mitteln der Verzweiflung um den Ausgleich und da waren zwei, drei Szenen, in denen der Schiedsrichter gegen sie entschieden hat, die nicht klar waren, Schwamm drüber, Chile setzt dann doch noch ein Konter und Australien hat sich achtbar aus der Affäre gezogen. Ich verlasse den Ort, den mein irischer Bekannter als „depressing“ bezeichnet. Er hat eigentlich recht, doch für die Spätspiele nach Mitternacht gibt es leider nicht so viele Optionen in der Nachbarschaft.
Gerd Lemke