Prag - Wir schreiben den 12. Juni 2014, nach einigen drückend-schwülen Tagen hat sich das Spätfrühlingswetter knapp zwei Wochen vor dem offiziellen Sommeranfang auf angenehme klimatische Bedingungen in Zentraleuropa gemildert, in der Stadt mit den hundert Türmen kann man wieder atmen. Es ist ein Donnerstag, einer wie so viele im Juni, um genau zu sein, einer von vieren in diesem denkwürdigen Jahr 2014, nichts deutet auf die folgenden Ereignisse hin.
Es sind noch sechzehn Tage, in denen wir das scheinbar so friedliche Leben im Land zwischen Großem Arber und den Weißen Karpaten unbeschwert genießen können. Es ist gegen 21 Uhr, ich verlasse die Lokalitäten der beruflichen Verrichtung und schlendere gemächlich durch die Herrengasse, wo E. E. Kisch lernte, als Texter die Wahrheit mal in dieses oder jenes grelle Licht zu rücken. Auf dem Graben wende ich mich nach links und biege auf dem Brückchen in die enge Melantrichgasse und drücke mich an verzückten Touristen, marktschreierischen Schaustellern, lauernden Taschendieben und aufreizenden Dirnen vorbei.
Du spielst Fußball, um zu gewinnen. Und was hat der Löw daraus gemacht? Das ist ja, als müsste die deutsche Comedy plötzlich witzig sein. Der Zuschauer geht zu einer Comedy-Show, weil er lachen möchte, aber nicht, um sich Witze anzuhören, das braucht er nicht zum Lachen.
Die Jahrhunderte geistern zwischen den Gemäuern und warten am Ausgang vor der astronomischen Uhr, dass ihre Stunde schlägt. Ich schlendere über den Altstädter Ringplatz, der sich trotz der Schaulustigen aus aller Herren Länder merkwürdig verödet vor mir räkelt. Enttäuscht folge ich dem Strom, der über die mondäne Pariser Straße hin zur Moldau abfließt, lasse die alte Judenstadt links liegen, denke mir das xxx-Hotel am Ufer nicht weg, um stattdessen Kafkas Stube zu imaginieren und ihn, wie er gerade das Urteil schreibt. Stattdessen überquere ich trockenen Fußes den Fluss, die Zeit schreitet voran, es geht bereits auf die halbe Stunde zu, und erklimme den Hügel, auf dem vor einem halben Jahrhundert der steinerne Stalin seinen Kopf verlor. Ein klein wenig außer Atem blicke ich über eine Ebene, an deren Ende ein Fußballstadion in Dornröschenschlaf verfallen ist. Sommerpause. Gemächlich schlendere ich an ein paar Schenken im angrenzenden Viertel vorbei, hie und da flimmern Flachbildschirme, dann trete ich irgendwo ein, wie meist in das Souterrain, wo bekannte Gesichter in eine Richtung starren.
Von Kisch zu Kitsch
Pflichtschuldig werde ich über die Eröffnungszeremonie informiert und muss noch mit ansehen, wie drei weiße Tauben in den Himmel entlassen werden. Oh, welche Symbolkraft in einem Land, in dem der tägliche Bürgerkrieg aller gegen alle herrscht und nur ein Erfolg der eigenen Fußballmannschaft die WM zu ihrem Ende bringen kann. Wenn das der Höhepunkt der Eröffnungsfeier war, möchte ich mir den vorhergegangenen globalisierten Kitsch erst gar nicht vorstellen. Nun denn, fangt halt endlich an zu spielen, seufze ich, und wie auf Knopfdruck auf die Playstation erfolgt der Anstoß. Es dauert lange, bis ich mich auf Grund der Bildästhetik von dem Generalverdacht einer großen Simulation lösen kann. Auf jeden Fall viel länger, als die Kroaten brauchen, bis sie den ersten Rückpass zum Torwart spielen. Ich schätze es auf sechs bis acht Sekunden, erst anschließend wird die Uhr eingeblendet.
Vorhersehbares Ergebnis
Was soll man zum Spiel sagen, wir wissen ja alle, wie es ausgegangen ist. Eine knappe Woche zuvor hatte ich ein Dreinull oder ein Dreieins vorausgesagt und damit gerechnet, dass die Kroaten wohl kaum so dumm sein werden, in diesem Spiel alles zu geben. Sie spielen munter mit und mutig nach vorne, haben aber sicher nicht damit gerechnet, dass Marcello ihnen mit einem Eigentor zur Führung verhilft. Was für eine tolle Metapher bietet sich da an, das brasilianische Establishment schießt mit der WM ein riesiges Eigentor und wird von einem Protestorkan weggefegt. Nicht einmal die FIFA kann helfen, die Spieler solidarisieren sich gegen den Filz aus Politik und Finanz, zum ersten Mal in der Geschichte muss eine WM vorzeitig abgebrochen werden, um Platz für einen gesellschaftlich längst überfälligen Diskurs zu machen. Und wir könnten uns die kommenden Wochen sparen.
Gedämpfte Erwartungen
Mein seit Jahren bewährter WM- und EM-Sidekick Nick mit der englischen Brille sitzt neben mir – logisch, dass wir uns erst gar nicht zu verabreden brauchten. Ich sage ihm, dass die Stimmung in Deutschland erstaunlich skeptisch ist, er bestätigt mir dasselbe aus seinem Heimatland. Uns werden die ersten Ellbogenstöße geboten, ich entschuldige mich bei meinem Hintermann, den ich versehentlich am Knie erwischt habe und hoffe, dass nichts Schlimmes passiert ist und er das Turnier fortsetzen kann. Neymar bekommt eine gelbe Karte für eine Aktion, die im normalen Leben eine Anklage wegen versuchten Todschlags nach sich gezogen hätte, Ellbogenschlag (oder besser –stoß?) Richtung Halsschlagader. Derselbe Neymar darf sich dann später als Held des Spiels feiern lassen, weil er einen 25-Meter-Flachschuss genau in die vom Torwart gesehen äußerste linke Ecke platziert. Der Ball sah mir haltbar aus, denke ich mir und gehe in die Pause.
Erste Auswechslung des Turniers
Der japanische Schiedsrichter fällt auf eine wirklich erbärmliche Schwalbe von Fred herein. Der Besitzer der Kneipe heißt zufällig auch Fred und wir beschimpfen ihn als üblen Simulanten. Die Aktion lässt auf jeden Fall die Stimmung gegen Brasilien umschlagen.
Paulinho gebührt die Ehre des ersten ausgewechselten Spielers des Turniers, für ihn kommt Hernanes, es ist noch keine Stunde gespielt. Kroatien macht das erstaunlich gut, sie bemühen sich immer wieder um schnelle Offensivaktionen, man kennt die Spieler ja aus der Bundeliga, Olić, Rakitić, Modrić, manche von ihnen haben sich ja sogar als zu gut für diese erwiesen. Na ja, der Rest ist schnell erzählt, der japanische Schiedsrichter fällt auf eine wirklich erbärmliche Schwalbe von Fred herein. Der Besitzer der Kneipe heißt zufällig auch Fred und wir beschimpfen ihn als üblen Simulanten.
Die Aktion lässt auf jeden Fall die Stimmung gegen Brasilien umschlagen, ich höre zum ersten Mal Kommentare in meinem Leben, dass jemand ausdrücklich den brasilianischen Fußball hasst. Haste da noch Töne? Der brasilianische Fußball, das Land, wo die Zitronen blühen für alle deutschen Fußballtrainer, wo man die Talente von der Straße pflücken kann, die alles mitbringen, was der deutsche Fußballer gerne hätte oder sich mühsam antrainieren muss?
Während Neymar seinen erbärmlich geschossenen Elfmeter mit allem Glück der Welt auch noch verwandelt, denke ich an die WM 2006 zurück, das waren noch Zeiten, da galt Brasilien als unschlagbar, unerreichbar und die Spieler ernteten Unmut für ihr arrogantes Auftreten neben dem Platz. Da war die Euphorie in Deutschland noch groß, da glaubte das Volk noch an den Titel – und das mit der Truppe von damals! Aber damals gab es auch noch die deutschen Tugenden. Damals galt auch noch die Maxime des längst in Vergessenheit geratenen Gary Linneker. Und was haben wir jetzt? Nach acht Jahren Yogikratie beherrschen die Spieler diese kaum noch. Vielleicht können die Statistik-Freaks unter den Lesern weiterhelfen: Wann hat die deutsche Nationalmannschaft zum letzten Mal aus einem Eckball ein Tor erzielt? Hat seit Michael Ballack ein Spieler einen Freistoß verwandelt?
Deutsche Tugenden
Wahrscheinlich muss ich an dieser Stelle wieder einmal daran erinnern, was die deutschen Tugenden waren. Du spielst Fußball, um zu gewinnen. Wenn es in einem Turnier schief läuft, muss es zumindest mal richtig in der Mannschaft krachen. Und was hat der Löw daraus gemacht? Das ist ja, als müsste die deutsche Comedy plötzlich witzig sein. Der Zuschauer geht zu einer Comedy-Show, weil er lachen möchte, aber nicht, um sich Witze anzuhören, das braucht er nicht zum Lachen. So ähnlich ist das auch mit der Nationalmannschaft. Es ist jetzt einfach mal gut, der Löw hat uns lange genug gekitzelt, jetzt wollen wir endlich auch mal lachen. Was ich meine ist ja, dass ich endlich mal wieder was erleben will und nicht nur an einem Event teilnehmen.
Kuck dir Brasilien an, die müssen ja mit einem Torhüter spielen, der nie geahnt hat, dass er mal in so einem Spiel zwischen den Pfosten steht. Da aber die designierte Nummer Eins einsitzt, wegen Auftragsvergabe zum Mord an einer ex-Freundin, zittern die Zuschauer am Ende noch ein bisschen um den Sieg. Dann macht Oscar in der Nachspielzeit den Sack zu, nämlich mit der Picke, jawoll, mit der Picke, wie einer, der zum allerersten Mal gegen einen Ball tritt. Das Ding sitzt. Das ist brasilianischer Fußball heute, ein Eigentor, ein geschundener Elfmeter, ein Tor mit der Picke. Manchmal ewig lange Bälle in die Spitze, Nick und ich würdigen die Renaissance des altehrwürdige Kick and rush aus Englands Glanzzeit. Eins schreibe ich den Yogi-Jüngern noch ins Stammbuch. Ein Schuss mit der Picke ist ein zulässiges Mittel, er hat nämlich auch Vorteile. Er kann ohne Ausholbewegung erfolgen, ist damit überraschend und beschleunigt das Spielgerät rasant. Nachteile sind die ungenauere Richtungskontrolle und die Gefahr für den Nagel des großen Zehs.
Gerd Lemke