Prag - Tag 10: Das Land liegt immer noch in einer Schockstarre, Sonntagszeitungen erscheinen ohne Titel, nur mit einem riesengroßen Foto. Ein Spieler der Einheimischen liegt erschossen auf dem Schlachtfeld.
Ein Land, das niemals eigene Kolonien besaß (wenn man mal von der Slowakei absieht) hat gegen ein Entwicklungsland verloren - so was muss erst einmal verdaut werden. Da tröstet auch die Schadenfreude über das Nullnull von Kroatien gegen Japan nicht viel.
Der Biergarten ist fast leer. Zwischen dem Kies liegen noch einzelne apfelsinenfarbene Federn (siehe Tag 8). Kroaten sind kaum in der Stadt. Die bereiten ihre heimischen Strände auf die Touristensaison und den Ansturm der Einheimischen vor. Denn Kroatien ist für die Einheimischen das, was früher für uns Italien oder Spanien war. Das kann ich in aller Ruhe erzählen, denn auf dem Platz tut sich nicht viel. Kroatien verschießt einen Elfmeter, Japan hat zwei richtig gute Chancen, die sie aber derartig kläglich vergeben, dass mir dazu tatsächlich kein geeigneter Vergleich einfällt. Fußball ist aber zum Glück so kurzlebig, dass ich einfach zum nächsten Spiel übergehen kann.
Fett schießt keine Tore
Spiel zwei verspricht besseren Fußball und bessere Stimmung AustrALIEN prüft Brasilien. Der Biergarten teilt sich in zwei Lager, die Brasilianer (zehn Prozent) zusammen mit den Opportunisten (40 Prozent) gegen die Australier (15 Prozent) zusammen mit den Taktikern, die auf ein frühes Ausscheiden eines potentiell schweren Gegners hoffen (eigentlich 70 Prozent, auch wenn die Rechnung nicht aufgeht).
Wieder mit dabei: Stürmerstar Ronaldo. Er ist sichtlich bemüht, hat wohl ein halbes Pfund abgenommen und schnauft über den Platz. In seiner bemerkenswertesten Szene schlägt er bei einem Halbvolley-Schussversuch ein Luftloch in der Größe des Ozonlochs. Das versichern mir zumindest die Australier am Tisch, die sich damit ja bestens auskennen. Nach einer Stunde hat der Trainer ein Einsehen und erlöst den Superstar von einst. Brasilien fährt einen letztlich ungefährdeten Sieg ein. AustrALIEN spielt couragiert und mutig nach vorne, ist aber glücklos. Macht aber nichts, ein Unentschieden gegen Kroatien reicht zum Weiterkommen.
Warum haben Känguruhs den Beutel vorne?
Derweil erfahre ich Interessantes aus der Tierwelt. Wussten Sie beispielsweise, dass Känguruhs nur vorwärts hüpfen können? Deshalb haben sie ihren Beutel auch vorne und nicht hinten, was ja viel praktischer wäre (sogenanntes Rucksack-Prinzip). Brasilien spielt übrigens mit der ältesten Außenverteidigung aller Zeiten (Durchschnittsalter 39,11 Jahre). Mein Tip also für alle Trainer der zukünftigen Brasilien-Gegner: Die sind über die Flügel zu knacken.
Brasilien gewinnt und die Brasilianer ziehen fröhlich vom Biergarten aus in die Welt, angeführt von einem Mann mit einer Tröte (der stammt ursprünglich aus Uruguay, was an seinem Akzent zu erkennen ist), der sie jetzt zum Moldauufer geleitet, wo sie sich einzeln über die Klippe in den Fluss fallen lassen.
Die Tragik des Abschieds
Das letzte Spiel des Abends macht mich wieder sehr traurig. Dabei fängt doch alles so vielversprechend an. Die Mannschaften nehmen Aufstellung, ich denke gerade, welches afrikanische Team ist das denn nun, als die Marseillaise erklingt. Es scheint da doch noch eine ehemalige Kolonie zu geben, die es bisher noch nicht zu einer eigenen Nationalhymne gebracht hat. Macht nichts, die Spieler singen auch nicht mit, können wahrscheinlich den Text gar nicht. Stopp, es muss sich dabei um Frankreich handeln, denn am Ende der Reihe steht ER persönlich, Zinedine Zidane.
Was haben sie ihm wohl alles versprochen, dass er immer noch spielt? Seit zwei Jahren kann dieser Mann keinen Schritt in Fußballschuhen tun, ohne größte Schmerzen zu empfinden. Seit zwei Jahren lässt er sich erst von Real Madrid, dann vom französischen Staatspräsidenten persönlich dazu überreden, noch einmal, nur ein letztes Mal mitzumachen. Zizou, wie sie ihn schmeichelnd nennen - so hat ihn seine algerische Mutter immer in den Schlaf gesungen, wenn er vor Hunger nicht einschlafen wollte. Dem kann der große Zidane nicht wiederstehen. Und quält sich ein weiteres und weiteres Mal. Mich wird diese Vorstellung am Ende des Fußballabends wieder so traurig machen wie an Tag 5.
Henry trifft, Barthez lässt durch
Frankreich spielt gegenüber der ersten Partie verbessert und schießt nach acht Jahren wieder ein Tor bei einer WM. Es sind sogar zwanzig Jahre, seit Frankreich ein WM-Tor außerhalb des eigenen Landes erzielt hat. Diese Ehre gebührt natürlich niemand anderem als Tierry Henry, dem derzeit besten, kaltblütigsten und elegantesten Stürmer weit und breit.
Doch das Drama nimmt seinen Lauf, Zidane wird verwarnt, er fehlt beim nächsten Spiel. Ist dies also sein letzter Auftritt?
Südkorea - ich habe ja den Gegner noch gar nicht erwähnt, das brauchte man aber bei früheren Auftritten Frankreichs auch gar nicht – hält gut mit, hat aber ein ähnliches Sturmproblem wie Japan. Trifft dann dennoch, wobei Glatze Barthez im Tor eine höchst unglückliche Figur macht. Der französische Verteidiger, der den Ball aus dem Netz fischt, ist richtig sauer.
Ich glaube, es hat nur ein Fünkchen gefehlt und die Rassenunruhe der Pariser Vorstädte hätten ihre Fortsetzung in Leipzig erfahren. Zum Glück steht Zidane auf dem Platz und beruhigt die Nerven. Denn Leipzig ist ja eigentlich eine No-Go-Area für Farbige (wie sagt man das denn nun politisch korrekt: Afro-Amerikaner, Afro-Europäer und auch Afro-Afrikaner, afroide Asiaten und überhaupt, nicht-Weiße?). Nur die FIFA, die Bundeswehr und die französische Fremdenlegion konnten ja überhaupt eine regelgerechte Durchführung des Spieles sichern. Die beiden Mannschaften wurden nach Abpfiff direkt vom Spielfeld aus mit Hubschraubern in den sicheren Westen geflogen.
Tränen für Zizou
Aber alles nicht so wichtig, wichtig ist, werden wir den großen, den genialen, den göttlichen Zidane noch einmal auf der Fußballbühne erleben dürfen? Nur, wenn Frankreich ins Achtelfinale kommt, aber wird er dann spielen können, spielen dürfen? Der Abschied eines so großen Spielers macht mich wirklich traurig. Wenigstens ein Tor sollte ihm vergönnt sein oder mindestens eine Vorlage oder wenigstens noch einmal der berühmte Zidane-Trick (den zwar jetzt alle Spieler außer Robert Huth auch beherrschen), den er seit zwei Jahren nicht mehr vorführt, weil dann alle Bänder in seinem linken Knie reißen könnten. Au revoir Zizou et merci beaucoup pour tous!
Ihr deutscher WM-Beobachter in Prag
So, aber während des Frankreich-Spiels tauchte noch folgende Fachfrage auf: Wo sollte die Fußball-WM 1986 ursprünglich stattfinden?