Auf, heute gilt's, morgen kann es bereits zu spät sein. Bevor der Fußballtag beginnt, erhalte ich eine Einladung zum Grillen im Park. Dabei ist am Vortag die Temperatur um 20 Grad gefallen und die Jahreszeit ist auf Ende Oktober vorgerückt. Ich bin höchst skeptisch, ob ich dem Kind das zumuten kann. Das legt sich erst mal mittags zu einem ausgedehnten Nickerchen hin, der es mir erlaubt, mich zunächst dem Spiel Belgien gegen Tunesien zu widmen. Das lohnt sich durchaus, denn nach 17 Minuten sind bereits drei Tore gefallen. Hazard per Strafstoß und Lukaku per Konter bei einem Gegentor von Mister X per Kopf nach einem Standard versprechen beste Unterhaltung. Kurz vor der Pause legt Lukaku noch einen drauf, das Spiel dürfte entschieden sein. Belgien spielt mit seinen Stars Hazard, de Bruyne, Lukaku, Witsel usw. einen gepflegten Ball. Tunesien spielt munter mit, das ist sehr sympathisch und gut anzusehen.
Einsetzender Nieselregen
In der Pause rüstet meine Lebensgefährtin MM das Kind winterfest aus und ich unternehme mit ihm den ersten Versuch, in den Park zu gehen. Doch als wir gerade zur Haustür kommen, bemerke ich einen leichten Nieselregen, der auf dem Weg von der Wohnungstür (erster Stock) zur Haustür (Erdgeschoss) eingesetzt haben muss. Ich breche das Unternehmen vorzeitig ab und kehre zurück. Bis ich wieder ein Bild empfangen kann, hat Belgien auf 4:1 erhöht, diesmal Hazard. Zehn Minuten später lasse ich das Spiel austrudeln und ziehe den zweiten Versuch gnadenlos durch, draußen in der freien Wildbahn den Futterplatz zu erreichen. Gegen den Regen ziehe ich eine Plastikplane über den Kinderwagen, dem Kind gefällt das zwar nicht, doch ich dulde keine Widerrede.
Am Grillplatz angekommen, erwarten uns bereits andere Kinder. Meines bekommt ein Stück Marmorkuchen und etwas Banane, ich Fleisch und eine saure Gurke. So verbringen wir einen angenehmen Nachmittag im Park, für kurze Momente gebe ich das Kind anderen Frauen ab, meistens halte ich es aber auf dem Arm. Leider kann es noch nicht alleine laufen und ich bin überprotektiv, glaube ich zumindest. Irgendwann schläft es ein, ich lege es in den Kinderwagen, decke es gut zu und bleibe doch immer in seiner Nähe.
Sieben-Tore-Spiel
Ein Smartphone-Besitzer mit Dauernetz vermeldet das belgische Endergebnis, 5:2. Ich mutmaße, dass dies wohl das torreichste Spiel von Putins familienfreundlicher We Emm bleiben wird. Gegen 19 Uhr ruft mich MM fernmündlich zurück ins Basislager. Ich gehe zusammen mit einer quasi Nachbarin mit einem Kleinkind im etwa gleichen Alter wie meines nach Hause und übergebe das Kind an MM, die keinerlei sichtbaren Schäden feststellen kann. Ich atme auf und mache mir einen Kaffee als Vorbereitung auf das Deutschland-Spiel. Ich lese noch, dass Mexiko durch einen 2:1-Sieg über Südkorea angeblich den Druck auf Deutschland erhöht habe, was ich persönlich so nicht bestätigen kann.
Ich brauche einen starken Kaffee
Das Vorspiel beginnt wie immer mit der Nationalhymne und ich glaube, dass sogar Boateng mit den Lippen zuckt. Deutschland in veränderter Formation beginnt druckvoll und hat gleich ein paar Chancen. Trotz der Hereinnahme eines echten defensiven Mittelfeldspieler (Sebastian Rudy) und eines defensiv ausgerichteten Verteidigers (Antonio Rüdiger) bleibt die Konteranfälligkeit bei Ballverlusten im Aufbauspiel. Einmal Müller und einmal Boateng retten gegen davoneilende Schweden mit Mitteln in der Grauzone zwischen internationaler Härte, Cleverness und plumpem Foul. Wenn da ein Elfmeter gepfiffen worden wäre, hätte sich niemand beschweren dürfen.
Die Durchschlagskraft entschwindet zunehmend aus dem deutschen Spiel, es sieht aus wie Handball ohne Abschluss aus dem Rückraum. Kimmich rechts und Hector links interpretieren ihre Rolle als Außenverteidiger gewohnt offensiv, doch sobald sie Richtung Grundlinie durchbrechen packt sie die Beißhemmung, sprich sie flanken nicht und spielen oft wieder hintenrum zurück. Tiki Taka ohne Dribbelkünstler, bezeichne ich das Spiel in einer sms-Schnellanalyse in der Halbzeitpause.
Entscheidendes in Hälfte Eins
Doch bevor es in diese geht, passiert ja noch folgendes: Toni Kroos, Mister Zuverlässig in Person, spielt im Mittelfeld einen Fehlpass. Dann läuft er zwar mit nach hinten, lässt den Gegenspieler im Rücken entweichen, der prompt das Zuspiel erhält und vor dem herausgeeilten Neuer mit einem geschickten Heber abschließt. Jetzt hat Deutschland wirklich Druck, denn jetzt droht im zweiten Spiel bereits das Ausscheiden. Dann muss auch noch Rudy runter, der erste Mittelfeldspieler in der Nationalmannschaft seit Torsten Frings, der wieder zur Grätsche greift. Leider erwischt ihn dabei ein schwedischer Stiefel im Gesicht und Rudy muss trotz aller Versuche, die Nasenblutung zum Stillstand zu bringen, runter. Damit ist das Experiment, Kroos im Mittelfeld eine echte defensive Absicherung an die Seite zu stellen, frühzeitig beendet. Schade, ich hätte gerne gesehen, ob das funktioniert hätte. Für Rudy kommt Gündogan, der sich mit einem schönen Fernschuss einführt, den der Torhüter nur abklatschen kann, doch es fehlt einer, der den Ball abstaubt.
Dann rettet Jonas Hector bei einem dieser brandgefährlichen Konter auf unorthodoxe Weise. Ich denke sofort daran, dass er ja der einzige Nationalspieler ist, der aus keiner Kaderschmiede stammt, sondern noch mit 20 beim SV Auersmacher spielte, einem Dorfverein vor den Toren der Landeshauptstadt des Saarlandes Saarbrücken. Der Zenith des SV Auersmacher war eine Saison in der fünften Liga, während der die lokale Saarbrücker Zeitung titelte, „Ein Dorf spielt richtig guten Fußball“. Nach dieser Saison als immerhin fünfter der fünften Liga zerfiel diese Mannschaft aber wieder, heute spielt der SV Auersmacher wieder eine gute Rolle in der sechsten Liga, der Saarlandliga. Einer dieser Spieler war der damals 18, 19-jährige Jonas Hector, der anschließend zum 1. FC Köln in die zweite Mannschaft wechselte. Heute ist Jonas Hector 39-facher Nationalspieler und ich gehe davon aus, dass er am Mittwoch gegen Südkorea die 40 vollmacht.
Umstellungen in der Pause
Nun, in der Pause demontiert Trainer Löw die WM-2014-Gedächtnis-Mannschaft weiter, er nimmt Julian Draxler runter und bringt Mario Gomez. Damit stehen nur noch Neuer, Boateng, Kroos und Müller aus dem 2014-Kader auf dem Platz. Deutschland gelingt kurz nach Wiederanpfiff der Ausgleich, nach einer Hereingabe von links zieht Gomez seinen Gegenspieler mit und touchiert den Ball ein wenig, den der nachrückende Marco Reus mit Glück und Geschick ins Tor befördert.
Ich füttere gerade meine Tochter und ärgere mich zum wiederholten Male über die Sprünge in der Internet-Übertragung. Wie bereits beim ersten Dänemark-Spiel verpasse ich das Tor und muss auf die Zeitlupe warten. Ich fluche etwas lautstark und das Kind ist sichtlich erschrocken. Ich beruhige es aber gleich wieder und stecke es kurze Zeit später zu MM ins Bett.
Plötzlich sieht man Ordnung und einen Plan im deutschen Spiel, der aufgehen könnte. Mit Gomez ist endlich der Stoßstürmer in der Mitte da, Werner kann auf dem linken Flügel seine Schnelligkeit ausspielen. Mit Gündogan ist eine weitere ballsichere Anspielstation im Mittelfeld da und Toni Kroos müht sich mehr und mehr, seinen Doppellapsus aus der ersten Hälfte wieder gutzumachen. Schweden verteidigt natürlich mit Mann und Maus, auch ein Unentschieden wäre für die Skandinavier Gold wert. Boateng rettet einmal im Mittelfeld mit einem taktischen Foul, später geht er einmal ungestüm in einen Zweikampf, das Ergebnis ist eine gelb-rote Karte. Noch zehn Minuten plus Nachspielzeit und einen Mann weniger.
Gelb-Rot für Boateng
Doch das macht sich kaum bemerkbar, Deutschland schnürt Schweden weiterhin hinten ein. In der 90. Minute rettet der Torhüter glänzend gegen einen Gomez-Kopfball auf der Torlinie, kurz darauf trifft der wieder spät eingewechselte Brandt wie gegen Mexiko nur den Pfosten, doch dann kommt die letzte Aktion des Spiels, Freistoß nach Foul an Werner von links, etwas spitzer Winkel. Kroos und Reus stehen bereit, Reus tippt Kroos den Ball an, der ihn in den Winkel des langen Ecks über den Torhüter hinwegzirkelt. Das muss es gewesen sein, ist es dann auch, denn Schweden findet in der letzten halben Minute nicht mehr die Kraft zurückzuschlagen. Das Gesicht, das der sonst so coole Kroos danach macht, ist unbeschreiblich, es ist die versteinerte Erleichterung. Das ist gerade so noch mal gut gegangen, jetzt ist in dieser Gruppe noch alles möglich außer einem gleichzeitigen Weiterkommen von Südkorea und Deutschland, wie ich auf dem Weg in mein Punk-Ressort durchrechne.
Dort läuft zwar noch der Fernseher, doch niemand redet über Fußball. Das ist gut so, so kann ich meinen Gedanken nachhängen und darüber meditieren, was dieser hochverdiente, aber im Endeffekt glückliche Sieg eigentlich bedeutet. Wenn Löw konsequent wäre, dann würde er auch mal Müller eine Denkpause geben und stattdessen Brandt von Anfang an bringen. Diese Spieler, die bei der WM 2010 jung, wild und erfrischend waren, haben seitdem Hunderte Spiele in der Knochenmühle Profi-Fußball absolviert. Das ist Fließbandarbeit unter beständiger Aufsicht von Millionen Kritikern. Für einen defensiven Mittelfeldspieler ist das, denke ich, kein so großes Problem wie für die Müllers und Özils, denen irgendwann einfach auch die Frische im Kopf fehlt, um für den besonderen, unvorhergesehenen Moment zu sorgen. Mario Götze ist auch so ein Spieler, der den Unterschied mit einer einzigen Aktion ausmachen kann. Um sich diesen einen Moment aber zu verdienen, muss er ansonsten auf dem Platz arbeiten, ackern, laufen, in ein taktisches Schema passen. Es gibt nicht viele Mannschaften, die sich einen C. Ronaldo leisten können, der nach hinten eigentlich nicht mitarbeitet, um vorne frisch zu sein, wenn es um die Veredelung eines Angriffs geht, also das Eckige ins Runde, ne, umgekehrt, das Runde ins Eckige zu bringen.