Prag -Tag 1: Neunter sechster zweitausendsechs, sechs Uhr Abend, Anpfiff. Alles, was an diesem Tag vorher war, wird zu nichts, hat keine Bedeutung mehr. Es gibt zwei Zeitrechnungen: vor sechs und nach sechs. Die WM hat begonnen, Schluss mit dem unsinnigen Spekulieren über Spieler, Form oder Verletzungen. Die Wahrheit liegt auf dem Platz.
Und es dauert nur sechs Minuten, da zappelt der Ball im Netz. Ein Traumtor von Lahm, von der linken Strafraumecke mit rechts in den rechten Winkel. Schon das erste Tor der WM könnte das schönste sein. Wir führen.
Doch dann nur zirka sechs weitere Minuten und Costa Rica gleicht aus. Dann nochmals sechs Minuten, wir führen wieder dank Miro Klose nach einer schönen Kombination über Schneider und Borowski auf der rechten Seite. Jetzt erst mal durchschnaufen, das erste Bier neigt sich auch bald dem Ende zu.
Im Exil-WM-Studio am Petersplatz herrscht eine aufgeräumte Stimmung unter den vier Fußballweisen. Friedrich hat eben gepennt und das Abseits aufgehoben, doch Unsere haben zurückgeschlagen. Du musst halt immer wieder aufstehen.
Auch wenn die Nudeln von eben sehr reichlich waren - feurige Paprikachips gehen immer. Und die machen Durst und das Bier Appetit auf Chips. Ein fataler Kreislauf. Der um so schneller angetrieben wird, je mehr das Spiel verflacht. Die einen stehen mit Mann und Maus hinten drin, Unsere versuchen anzugreifen. Ergebnis: Eine neue Chipspackung muss her.
Halbzeit, Zeit für neues Bier. In der zweiten Halbzeit läuft das Spiel exakt nach dem gleichen Drehbuch wie in der ersten Halbzeit. Tor für Unsere, dann für die anderen, wieder hat Friedrich gepennt und das Abseits aufgehoben, schließlich wieder ein Tor für uns. Nur, dass Klose in der zweiten Halbzeit den ersten Treffer erzielt – kommen Sie noch mit? In der ersten Halbzeit hat Klose den wievielten Treffer von uns erzielt? Und dass Frings mit einem Traumtor den - na - zweiten Treffer von uns in der zweiten Halbzeit markiert.
Also, in der Parallele ist eine Spiegelung eingebettet, außerdem fallen die Tore in der zweiten Halbzeit erst gegen Ende und nicht gleich in den ersten zwanzig Minuten. Genug von Ästhetik, eins ist klar, wir haben gewonnen und werden natürlich Weltmeister. Wenn wir es in jedem Spiel schaffen, ein Tor mehr zu schießen, als wir dem Gegner schenken.
Polen - Ecuador: weniger Tore, aber besseres Spiel
Nun, von der etwas sterilen Atmosphäre des Exil-WM-Studios zum zweiten Spiel, unsere künftigen Gegner kreuzen die Klingen. Und wir heben noch ein paar Bier, wir haben ja schließlich gewonnen und wer weiß, wann wir wieder Grund zu solch guter Laune haben werden.
Das Spiel ist besser als unseres, allerdings fallen weniger Tore, exakt zwei. Für Polen allerdings keines, die treffen am Ende nur einmal die Latte und einmal den Pfosten. Schön blöd. Ist aber auch kein Wunder, denn die besten polnischen Stürmer spielen ja für uns, nämlich Klose und Podolski. Da sollte man sich in Polen mal Gedanken drüber machen, warum die Besten bereits als Kleinkinder weg gehen. Olisadebe ist auch nicht mehr bei Polen dabei. Saudoof. Nun ja, Ecuador steht – wie es so schön heißt – kompakt, aber läuft auch ziemlich schnell, sowohl nach vorne als auch nach hinten. Da kann Polen nicht richtig mithalten, obwohl sie natürlich optisch überlegen sind.
Das ist wie in der polnischen Besatzungszone im Irak. Der Feind ist immer schon weg, wenn der Schaden angerichtet ist. Mit dem Traum, endlich zu den kolonialisierenden - heute sagt man: globalisierenden - Nationen zu gehören und nicht immer nur zu den kolonialisierten bzw. globalisierten geht auch ein Trauma einher. Denn die polnischen Fußballer zeigen das Dilemma: Wie beherrscht man einen Gegner, um am Ende auch als Sieger hervor zu gehen? Klose und Podolski sind schon weg, Olisadebe ist in der berühmten Versenkung verschwunden und Smolarek spielt auch schon in Dortmund. Vielleicht sollte man sich mal bei der polnischen Minderheit in Litauen und Weißrussland umsehen. Aus dem Irak kamen bisher nun wahrlich keine guten Ballkünstler.
Wir haben gewonnen, Polen hat verloren. Das Fazit des Tages fällt durchaus nicht negativ aus. Morgen gibts dann England, dann wirds endlich emotional. In der pittoresken Hauptstadt unseres Nachbarlandes hält sich der vernünftige Deutsche mit seiner Freude doch eher bedeckt, manchmal sogar unter einem Deutschland-Schal. Der Pole mit seiner Trauer auch, denn auch er ist Nachbar dieses Landes.
Gute Nacht, morgen wartet ein harter Tag.
Ihr deutscher WM-Beobachter in Prag
Preisfrage: Wie hießen eigentlich die WM-Maskottchen von 1974, als die Welt zuletzt zu Gast bei Freunden in Deutschland (West) war? Die Auflösung gibt es nach dem Sandmännchen und der Tagesschau.