Prag - Tag 8: Es ist mal wieder bestes Biergartenwetter. Und ich habe heute frei und kann ausschlafen. Auf dem Weg zum Geschehen esse ich meine obligatorische Viertel-Pizza.
Habe mich mit einem Argentinier und einer Japanerin verabredet. Ich will studieren, wie diese Nationen die WM feiern. Doch dann die erste Enttäuschung, sie sind bei Anpfiff nicht da. Meine englischen Freunde auch nicht.
Eigentlich ist fast niemand da außer einer Gruppe Brasilianer. Die sind daran zu erkennen, dass sie eine Landesfahne als Tischtuch ausgebreitet haben. Und wenig später daran, dass sie bei jedem argentinischen Tor komplett versteinern.
Unzuverlässige Südländer
Dazu aber später mehr. Nun ja, rufe die Japanerin an und sie sagt mir, dass sie spät aufgestanden sind und jetzt allmählich zum Biergarten gehen. Dabei läuft das Spiel schon zehn Minuten! Diese Südländer, denke ich mir, man kann sich nicht auf sie verlassen. Eine Stunde Verspätung ist für sie nichts. Aber bei Fußball ist eben Anpfiff Anpfiff.
Hinten jubelt mal wieder eine Gruppe Argentinier und wedelt mit ihren Trikots. Dann setzen sie sich kurz wieder. Dann springen sie wieder jubelnd auf, während direkt hinter mir die Brasilianer entsetzt verstummen.
In der Halbzeitpause zeigt das Einheimischen-Fernsehen Bilder vom serbischen Mannschaftsquartier. In gerader Linie stehen 23 Feldbetten in einem Zelt direkt vor dem Stadion. Um 4 Uhr 30 ist Weckappell, dann heißt es Zähne-, Fußballschuhe- und Gewehrputzen. Nach dem Frühstück beginnen die Schussübungen, anschließend ist Nahkampf und psychologische Kriegsführung.
Kein serbisches Essen
Ich denke noch, wie schnell kann aus einem Feldlager ein Gefangenenlager werden, da jubeln die Argentinier schon wieder und bleiben gleich stehen. Am Ende steht es sechs null. Die serbische Mannschaft wird abgeführt, die einen landen vor dem Haager Kriegsverbrecher-Tribunal, die anderen werden in Belgrad vor ein Standgericht gestellt und später wegen Befehlsverweigerung erschossen.
Bin enttäuscht, dass meine neuen Bekannten nicht gekommen sind. Muss jetzt was essen. Beim Verlassen des Biergartens sehe ich doch tatsächlich eine Japanerin in einer Gruppe jubelnder Argentinier. Sie lächelt anerkennend, scheint aber nichts zu verstehen. Das sind nicht mehr meine neuen Bekannten von gestern und so gehe ich meiner Wege, schnurstracks ins nächste serbische Restaurant. Dort ist der Koch in Tränen aufgelöst und die Bedienung rät mir, ihn jetzt nicht zu stören. Sie habe gehört, wie er seine Messer besonders gründlich geschärft hat und ihn dann lieber in der Kühlkammer eingeschlossen.
Orange Federboas
Zweites Spiel, zweites Glück. Nachdem ich den Argentinier verpasst habe, hefte ich mich an die Fersen von Holländerinnen. Die tragen apfelsinenfarbene Federboas. Ihre Lippen sind oben rot und unten blau bemalt. Wenn sie den Mund aufmachen, sieht man die niederländische Nationalflagge. Sehr einfallsreich. Setze mich einfach in ihre Nähe. Dann fängt das Spiel an. Das ist aber auch das Signal für zwei Österreicher, ein endloses Gespräch zu führen.
So erfahre ich viel Nützliches über Zigeuner-Kapellen, den Vietnam-Krieg, die Ausbildung bei der österreichischen Armee, den österreichischen Damenfußball, Feminismus in Österreich. Die Unterhaltung fesselt mich so sehr, dass ich mich kaum auf das Spiel konzentrieren kann. Auch die Holländerinnen sind längst von mir abgerückt, sie ersetzt eine Gruppe deutscher Hundeliebhaber. Die Brasilianer hinter mir jubeln wieder dem falschen Team zu – die Deutschen übrigens auch -, während die Österreicher gerade über den Sinn und Unsinn debattieren, wenn 22 erwachsene Männer einem Ball hinterher laufen.
Ich bin bereits vollkommen deprimiert, als mich meine englischen Freunde abholen und erlösen. Holland schlägt die Elfenbeinküste 2:1. Als Angehörige einer alten Kolonialmacht haben die Engländer natürlich Verständnis dafür, dass bei der WM die Machtverhältnisse gerade gerückt werden müssen und freuen sich mit.
Wir, die Verfluchten dieser Erde, schauen uns auch noch Mexiko gegen Angola an. Die Afrikaner sind ungefähr so furchterregend wie ein als Schlange verkleideter Regenwurm. Das einzige, was mir von diesem Spiel im Gedächtnis geblieben ist, sind die herzzerreißenden Szenen angolanischer Spieler, die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Grün wälzen. Und natürlich die dümmste rote Karte des Turniers, ein absolut unnötiges Handspiel an der Außenlinie auf Höhe der Mittellinie. Und die Krawatte des argentinischen Trainer da Volpe.
Das ist der, der immer in Japan einkauft, diesmal aber eine chinesische Krawatte mit Drachenmotiv trägt. Das ist der, den die Mexikaner als Ausländer betrachten, obwohl er fließend spanisch spricht und weiß, wie man Tequila trinkt. Doch da Volpes Team macht keinen rein. Wir fiebern sehnsüchtig dem Schlusspfiff entgegen und sind dann nach nur drei Minuten Nachspielzeit entlassen. Uff, geschafft!
Ich deutscher WM-Beobachter in Prag
Die Frage lautet, wen trainiert denn nun eigentlich da Volpe?