Von Deutschland – Schottland 5:1 über Rumänien – Ukraine 3:0 bis Belgien Slowakei 0:1 aus dem Leben und Denken von Gerd Lemke
Freitagvormittag, am Abend läuft das Eröffnungsspiel. Aus taktischen Gründen bemühe ich mich um einen Job vom Nachmittag bis zum Abend (Stichwort: 2014). Einem Studenten erkläre ich vormittags noch die Konfliktlinien in der deutschen Mannschaft: Neuer, Gündogan, Havertz/Füllkrug. Mein Gesprächspartner ist überrascht: „Wer soll denn statt Neuer spielen“ - „Na, 'ter Stegen.“ - „Wer?“ - „'ter Stegen. Von Barcelona.“ Jetzt klingelt's (noch nicht bei Neuer im Tor), denn mein Gesprächspartner ist Barcelona-Fan, wenn er sich auch mehr für Basketball interessiert. Nun ja, er hört sich meine Ausführungen geduldig an und meint dann, „ach, was soll denn gegen Schottland schon schief gehen?“ Ich gebe zu, dass ich von der Auswahl des Whisky-Landes wenig Ahnung habe.
„Was soll gegen Schottland schief gehen?“
Den Job für den Nachmittag bekomme ich und versuche mich in einer Disziplin, die ich erst in Prag kennengelernt habe: der zeitversetzten live-Reportage. Tatsächlich, niemanden interessiert im „Park der Freundschaft“ in einem Prager Außenbezirk die Eh-Em, es geht hier nur um leichte Musik, schwere Weine, internationales Streetfood und nationales Bier. „Die Welt zu Gast bei Feinden“, wie ein Journalist eines Hamburger Nachrichtenmagazins (diesmal war es nicht der Spiegel) titelte, ist kein Thema. Die so naheliegende wie eurozentristische Anspielung auf das einstige Sommermärchen ist aber grundlegend falsch: Was interessiert den Rest der Welt, was wir in Europa machen?
„Wie, du kuckst nicht Deutschland?“
Fast hätte es mit der zeitversetzten live-Reportage geklappt, doch wie in einem Münster-Tatort macht jemand einen Strich durch die Rechnung. Als wir zurück nach Prag 7 fahren fragt Gael überrascht: „Ah, heute spielt doch Deutschland. Wie, du kuckst das Spiel nicht an? Keine Panik, es steht eh schon 2:0.“ Da ist er, der Börne-Satz aus dem Tatort, die Spannung ist weg, wenn die Information auch falsch ist. „Ich sehe schon noch mein Spiel“, versichere ich und vertraue ganz auf das Tschechische Fernsehen. Und das sollte mich auch nicht enttäuschen. Zu Hause genieße ich zunächst 90 Minuten lang den Blick von oben, eine Kameraeinstellung, keine Schwenks, keine Zooms, kein Kommentar, nur Atmo aus dem Stadion. Endlich sieht man die Zusammenballungen der Spieler in einzelnen Spielsituationen und Zonen. Endlich kann man das Verschieben und die taktischen Manöver sehen, davon habe ich immer geträumt. Herrlich!
Spiel aus der Vogelperspektive
Um dann noch mitreden zu können, schaue ich das Spiel anschließend gleich nochmals an und sehe Gündogans Zuckerpasse auf Havertz vor dem zweiten Tor. Dann das schottische Foul, das zum Elfmeter führt. Ich hoffe, dass wir diesen Spieler bei der Eh-Em nicht mehr sehen werden, so im Fünfmeterraum in den Gegenspieler zu springen, ist nicht nur strohdumm, sondern auch gemeingefährlich und nahezu heimtückisch. Gündogans Bein scheint den Härtetest aber bestanden zu haben. Havertz macht sein Tor (Elfmeter), Füllkrug kommt rein und macht gleich sein Tor, zum Schluss sogar Emre Can, frisch aus dem Urlaubsmodus auf den Platz, hat er jetzt schon mehr Eh-Em-Tore geschossen als Rekordtorschütze Miroslav Klose und Thomas Müller zusammen. Die Neuer-Frage konnte nach diesem Spiel nicht beantwortet werden, Schottland hatte einfach keine Torchancen, erzielte dennoch aber ein Tor. Wie das geschehen konnte, muss ich Gael am folgenden Tag auf dem Weg zum erneuten Arbeitseinsatz im Park der Freundschaft erklären.
Fußballfrei im Park der Freundschaft
Wieder verbringe ich einen angenehmen Tag mit etwas Arbeit und absolut keiner Eh-Em am Prager Stadtrand, im Schatten der Wohnsilos und Einkaufszentren, und starte den zweiten Versuch in der zeitversetzten live-Übertragung. Niemand interessiert sich für Fußball, auch nicht für Eishockey. Ganz unbeleckt kehre ich noch vor Mitternacht nach Hause zurück und probiere mich in der Mediathek zu den Fußballaufzeichnung durchzuklicken, ohne auf die Ergebnisse zu sehen. Spanien – Kroatien – Mist, da ist der Blick schon auf ein 3:0 gefallen. Schweiz gegen Ungarn, das kann ich mir mit konservierter Spannung ansehen und schaffe noch eine Stunde (2:0 für die Schweiz), bis mir die Augen zufallen. Aebisch (so erinnere ich mich zumindest im Traum) ist der Mann der ersten Halbzeit mit einer sehr schönen Torvorlage und einem eigenen Treffer. Nie gehört, den Namen, chrchrchr.
Unglaubliche Aufholjagd
Am Sonntag heißt es endlich ausschlafen und dann Küche aufräumen, bevor ich ans Einkaufen und Essenkochen gehe. Auch 'ne Dusche kann ich noch einschalten, doch dann muss ich den Rest von Schweiz gegen Ungarn sehen. 1:1 endet die letzte halbe Stunde, zusammengenommen also 3:1. Dann stehe ich natürlich vor dem Dilemma, erst noch den Vortag aufarbeiten oder gleich live einsteigen? Ich entscheide mich für eine Mischung und sehe Spanien gegen Kroatien noch relativ ungestört, wenn auch nur die erste Halbzeit. Spanien zeigt sich furchterregend effizient, das Ergebnis spiegelte den Spielverlauf keinesfalls wieder.
Spaghetti Bolognese mit Pute
Die zweite Hälfte schenke ich mir und bereite in der Küche lieber eine Bolognese vor. Die lasse ich vor sich hin köcheln und stelle erfreut fest, dass die Niederlande (früher: Holland) am Ball sind. Mein Interesse ist geweckt und Italien muss warten. Ich weiß immer noch nicht das Ergebnis, nur, dass ein Tor gefallen ist. Italien schlägt Albanien 1:0, das würde ihnen gleichen. Später mehr. Erstmal also die Niederlande. Ehe ich's vergesse, Polen ist der Gegner. Der auch recht früh in Führung geht, ein schöner unhaltbarer Kopfball nach einer Standardsituation. So was kann man einfach nicht immer verteidigen. Doch die Niederlande schütteln sich nur kurz und so dauert es nicht lange, bis sie ihre spielerische Überlegenheit in den Ausgleich ummünzen. Meine Tochter (wäre derzeit E-Jugend) schaut ein bisschen mit mir und dann muss ich ein Kitzel- und Zeckspiel mit ihr machen, für Kurzweile ist also neben dem Geschehen auf dem grünen Rasen gesorgt.
Buksa und Gakpo, das klingt in den Ohren
In der Pause koche ich die Spaghetti zur Bolognese und mit Anpfiff der 2. Hälfte darf ich meinen Bauch nach drei Tagen unregelmäßigem Essen wieder gehörig füllen. Die Niederlande sind weiterhin spielbestimmend, doch Polen sorgt mit der Taktik der langen Sprints auf den Außenbahnen und den provozierten Standardsituationen immer wieder für Unruhe. Buksa und Gakpo, denke ich, Gakpo und Buksa, die Schützen der beiden Tore, wem das nicht wie Poesie in den Ohren klingt, mag weder Fußball noch Lyrik und ist sowieso unempfindlich für die wichtigen Dinge des Lebens. Für die Schlussphase wird Horst Weghorst, nein, der heißt doch nicht wirklich so mit Vornamen?, eingewechselt und macht, was man aus der Bundesliga hinreichend kennt, gleich ein Tor. Der Ball kommt an den Fünfer (im Neu-Fußballdeutsch: kleine Box), noch leicht abgefälscht, und der Weghorst ist eben den einen kleinen Schritt schneller und macht ihn rein. Spätes Aufbäumen nutzlos, die Niederlande (früher: Holland) holen drei Punkte.
Kein Schlaf am Nachmittag
Was nun? Ich könnte mich geradezu hinlegen, so schlapp fühle ich mich, fürchte aber, dann gleich bis in den Abend zu pennen. Ich schaue mir also die Zusammenfassung von Italien gegen Albanien an – Himmel, Albanien geht nach dem ersten Einwurf Italiens in Führung. Wenn das wirklich das einzige Tor des Spiels war, denke ich noch, dann hätte ich das Ergebnis sicher schon erfahren, führe ich den Gedanken fort, als auch schon der Ausgleich und die Führung Italiens fallen. Danach scheint nicht mehr so wahnsinnig viel passiert zu sein bis zur letzten Minute, denn da hat Albanien aus dem Nichts die dicke Ausgleichschance, Don(n?)aruma bringt noch die Schulter in die Flugbahn des Balls, unbemerkt vom Schiedsrichtergespann, denn es folgt ein Abstoß.
Entspannter Spaziergang
Ich will nicht das Risiko eingehen einzuschlafen und fahre in den Nachbarbezirk, wo ich einen Vietnamesen kenne – also nicht persönlich, sondern nur dessen Laden -, der ein halbes Kilo grünen Tee im Pack verkauft. Der geht mir nämlich gerade aus und reicht normalerweise für fünf Monate. Zurück lege ich einen netten Spaziergang ein, durch ein Villenviertel, in dem sich etliche Residenzen verschiedener Länder befinden, vorbei an der russischen Botschaft, vor der ein Mahnmal aus Schrotttraktoren und ausgebrannten Autos an den Überfall auf die Ukraine erinnert. Ich fürchte nur, es nützt nichts und wird die russische Haltung nicht ändern.
Wo sind eigentlich die Briten?
Dann vorbei an der Terrasse des Vegtrals, wo tatsächlich Kip und Fred sitzen. Fred quatscht mich gleich an und fragt nach Fußball. Ich geselle mich kurz zu ihnen, möchte aber nichts trinken, mir ist wirklich nicht danach. Immerhin bekomme ich die interessanten Informationen, dass die Briten, die sich früher in Fred's Bar zum Fußballschauen zusammengerottet haben, nun woanders ihrem Hobby frönen, nämlich im Frankie's oder im Irish-Pub. Ersteres heißt aber heute Bukowski's und ist eine Cocktail-Bar, zweiteres ist in meiner Straße, ein für mich jedoch indiskutabler Ort. Kip hat die wichtige Information, dass es beim Biergarten eine Leinwand gibt, also im Park, worauf ich mindestens sieben Turniere vergebens gewartet habe. Ich verabschiede mich schnell und mache einen Schlenker durch den Park. Es stimmt, dort gibt es einen Flachbildschirm, wo Dänemark eine 1:0-Führung herunterspielt. Bevor ich jedoch frage, wie lange sie das Abendspiel übertragen, entdecke ich die Getränkekarte, werde den spartanischen Sitzgelegenheiten gewahr und kann das nicht mit einem stimmungsvollen Abend in Übereinklang bringen. Also gehe ich nach Hause, bereite mir einen grünen Tee, werfe den Computer an und schaue Dänemark gegen Slowenien.
Ausklang am Sonntagabend
Zum grünen Tee öffne ich eine Flasche Pilsener Urquell und sehe, wie Slowenien das Spielgeschehen mehr und mehr in die dänische Hälfte verlagert und verdient zum Ausgleich kommt. Meine Tochter kommt mitsamt ihrer Mutter wieder nach Hause, ich wärme ihr zwischendurch Spaghetti und Sauce auf und kaufe zur Sicherheit noch ein paar Flaschen Urquell. Auf dem Rückweg mache ich einen Schlenker am Bukowski's alias Frankie's vorbei und kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dort ein Spiel zu schauen. Also schaue ich Englands Kick gegen Serbien zu Hause, ermahne meine Tochter (wäre jetzt in der E-Jugend) zu baldigem Schlafengehen und finde das Spiel ziemlich entspannend, denn ich habe nie das Gefühl, dass Serbien noch etwas gelingen kann. In jede kleine Druckperiode mischen sie nach Ballverlusten so viele unnötige Fouls, dass die wenigen angesammelten Bar (früher: Atü) gleich wieder verpuffen. Als meine Tochter endlich im Bett ist, wende ich mich doch noch dem Spiel Italien gegen Albanien zu, zumindest etwa 30 Minuten lang, und habe somit das Wochenende aufgearbeitet.
Am Montag geht es nahtlos weiter
Nur dumm, dass ich am Montag erst mal arbeiten muss und bis ich das Wochenende zu Papier gebracht habe (ein herrlicher Atavismus, als würde heute noch jemand das Holzprodukt dafür gebrauchen), ist schon wieder ein Spiel vorbei, in dem die Rumänen den so schon gebeutelten Ukrainern ein 3:0 einschenken. So geht es eben zu in der Welt auf dem Fußballplatz, erst bereitet der Torwart mit einem katastrophalen Fehlpass Stancius Traumabschluss vor. Darüber darf ich nicht mal laut aufschnaufen, ich arbeite ja noch und muss sogar unterdrücken, meinen slowakischen Studenten das Ergebnis mitzuteilen. Das sind zwar alles gestandene Männer und sie hätten vielleicht Verständnis, doch ich wahre selbstredend den Schein. Anstandshalber frage ich sie nach ihrem Tipp für das Slowakei-Spiel. Skepsis herrscht vor, bestenfalls trauen sie sich auf unentschieden zu setzen. „Optimistisch würde ich tippen 2:1 für uns, realistisch 2:1 für Belgien.“ Ach ja, die Leute aus der IT-Branche. Da gewinnt der Verstand immer.
Skeptische Tipps der Slowaken
Die Ukraine müht sich weiterhin redlich, doch es ist alles vergebens und in der zweiten Hälfte fallen zwei schnelle Tore, wobei das zweite nicht unhaltbar aussah. Der „Käs' is' 'gess'“, wie man in meiner Heimat zu sagen pflegt. Rumäniens Kapitän Stanciu war ja mal in Prag, hat glaube ich für beide Prager „S“ gespielt. Bei Sparta, in meinem Wohnbezirk beheimatet, hat er sich jedenfalls keine Freunde gemacht. Erst der heiße Treueschwur, dann die kalte Abfuhr. Das vergessen die hier nicht so schnell. Einer meiner damaligen Schüler, glühender Sparta-Anhänger, hat mir das mit zornigen Augen erzählt. Dabei habe der doch so gut bei Sparta verdient, eine halbe Million pro Woche oder so. Allerdings in tschechischen Kronen, da kann man bei einem Legionär auf keine große Loyalität rechnen.
Das Mysterium der Zeit
Doch ich rase rastlos weiter, schlimmer als einst der rasende Reporter aus Prag. Der Chronist lebt ja in einem mindestens doppelten Universum, der Zeit, die er erlebt und von der er berichtet, und der Zeit, in der er seine Aufzeichnungen macht, in der die erste Zeit jedoch nicht stehenbleibt. Wenigstens nicht in der Vorrunde eines Großturniers, denn schon stehen die Slowaken auf dem Platz und spielen eine bemerkenswerte Partie gegen Belgien. Nach zwei Minuten vergibt Lukaku eine grotesk glasklare Chance, kurz darauf noch eine und dann spielt Doku, gedacht als Vorbereiter für belgische Tore, einen herrlichen Pass von der Außenlinie nach innen vors Tor, in den Rücken der Abwehrspieler und im Nachschuss fällt das Tor, da sind erst gut fünf Minuten gespielt. Dumm nur, dass Doku bei der ganzen Aktion hinten ausgeholfen hat und damit der Slowakei das Siegtor auf dem silbernen Tablett serviert. Bis es so weit ist, vergehen noch lange 95 Minuten, in denen Lukaku zwei Tore durch Video-Intervention aberkannt werden. Auch sonst ist es eines der Lukaku-Spiele, in denen er den Ball einfach nicht unterbringt. Und das, obwohl die Slowakei hinten manchmal Harakiri spielt und im Aufbau aus vor der eigenen Torlinie haarsträubende Ballverluste erleidet. Dieses Spiel ist für die Roten Teufel einfach verhext und es geht gegen hochengagierte, aber zunehmend ausgepumptere Slowaken schief, was nur schief gehen kann.
Ich bin ratlos, ein Spiel steht noch an, Frankreich gegen Österreich, dann ist auch schon der Montag vorbei und ich endlich in der Gegenwart angekommen. Nur, was fange ich damit an?