Prag - Tag 12: Unsrige spielen und ich wage mich zum ersten Mal in die Öffentlichkeit. Im Biergarten kann ich getrost Gelassenheit zur Schau stellen, wir sind ja schon weiter.
Außerdem weiß Ecuadors Trainer genau, was sich für einen WM-Neuling im Spiel gegen den dreimaligen Weltmeister und Ausrichter der WM gehört: mit der Ersatzmannschaft spielen und dem Gegner den Vortritt lassen. Ich gehe also in den Biergarten und bade im Deutschenhass.
Das stimmt nicht ganz, denn die Hälfte der Zuschauer sind ja Deutsche und der anderen Hälfte vergeht bereits nach vier Minuten die Lust auf Schadenfreude. Unsrige spielen Ecuador am Fünfmeterraum schwindelig, bis Klose einnetzt.
So schön kann Fußball sein
So verbringe ich einen herrlich entspannten Nachmittag im Kreise von Landsleuten und Neidern. Klose macht noch ein wunderschönes Tor und so weiter und so fort. Mir geht es sichtlich gut. Allmählich verstummt auch der einzige Ecuador-Fan weit und breit. Vor dem Spiel hat er uns noch seine Flötensammlung gezeigt und erklärt, dass in seinem Heimatland alle Fans solche Instrumente mit sich führen.
Die einen blöken wie Schafe aus Unmut gegenüber dem Gegner, die anderen Flöten pfeifen, andere wiederum jubilieren und triumphieren, wenn die eigene Mannschaft ein Tor schießt. Ecuadorianische Fans sind deshalb stets in Gruppen von der Größe eines Kammerblasorchesters organisiert. Jeder weiß genau, in welcher Spielsituation er in sein Horn blasen muss. Leider ist dieser Fan heute in kleinster Besetzung aufgetreten und muss alle Flöten selbst bedienen. Was angesichts des Spielverlaufs aber nicht allzu kompliziert wird. Irgendwann ist selbst er das Geblöke leid.
Angst vor der Sperre im Nacken
In der zweiten Halbzeit begehren die Ecuadorianer nur kurz auf, hauen erst Ballack, dann noch einen weiteren Gegenspieler um. Dann fällt ihnen wahrscheinlich ein, dass sie ja noch ein Achtelfinale spielen und es besser wäre, auf Sperren zu verzichten. Deshalb tut sich in den letzten 15 Minuten auf dem Platz gar nichts. Die bereits anwesenden Engländer - sie besetzen frühzeitig Tische für das Abendspiel - sind darüber konsterniert, dass die Unsrige schon wieder so souverän sind. Jetzt wünschen sie sich das Duell mit uns doch lieber im Finale statt im Achtelfinale.
So, das Spiel ist gewonnen, jetzt kommt aber der kritische Moment der WM. Was tun mit dem Spiel Polen - Costa Rica, das zeitgleich lief und jetzt in einer Aufzeichnung gezeigt wird? Das Spiel ist bedeutungslos - zumindest was den weiteren Verlauf der WM betrifft.
Wir gehen also Pizza holen und schauen in der Pizzeria. Dort essen wir dann die Pizza gleich aus dem Pizzakarton auf, Costa Rica führt 1:0, als wir zurück zum Biergarten gehen. Dort angekommen, steht es bereits 1:1. Wir haben also ein Tor verpasst. Doch das stört nicht wirklich.
Ruud Gullit nicht besser als Karl-Heinz Rummenigge
Ich vertiefe mich in den Guardian vom Vortag, lese ein Spielerporträt über Torres, den neuen spanischen Mittelstürmer. Eine Analyse zu Ronaldos weiteren Chancen im Turnier. Eine Meldung über den Wahlausgang in der Slowakei. Eine Kritik über die Fernsehmoderation der WM. Ein englischer Moderator hatte tatsächlich beim Spiel Tunesien gegen Saudi Arabien Knitterfalten im Hemd!
Außerdem wird Ruud Gullit als Co-Kommentator kritisiert, er wäre langweilig und verstehe nichts vom Fußball. Hätten die Fernsehmacher doch mal beim deutschen Fernsehen über deren Erfahrungen mit Co-Kommentator Karl-Heinz Rummenigge nachgefragt („das Foul war von einer gewissen Härte geprägt“, „das war fast schon so etwas wie eine kleine Vorentscheidung“ – „Kalle, wär´ das nicht ein Mann für die Bayern?“).Polen macht zwischendurch noch den Siegestreffer – Ecke, Kopfball, Tor. Dann heißt es wieder warten.
Endlich wieder Nationalhymnen
Im Gegensatz zum Nachmittag kommen wir diesmal in den Genuss, beide Nationalhymnen zu lauschen. Ich erwische Owen Hargreaves, wie er dabei nur die Lippen bewegt und eigentlich „kde domov mùj“ – „wo meine Heimat ist“ mitsummt. Hargreaves kommt ja aus München und ist unsere Revanche für Robert Huth (in englisch spricht man den Namen so ähnlich aus wie „Hass“ oder „Hoss“, nur mit dem berühmten Tie-eytsch am Ende). Für den joke ernte ich bei meiner Engländer-Kolonie anerkennende Lacher.
Shrek Rooney spielt von Beginn an, dafür verletzt sich Milkface Owen gleich am Anfang und wird durch Spider Crouch ersetzt. England hat ein leichtes Übergewicht, Joe Cole schießt ein fantastisches Tor aus der Frings-Position (siehe Tag 1), alles scheint seinen gewohnten Gang zu gehen.
Ich ebenfalls und treffe auf der Toilette in der Halbzeit Henrik Larsson. Er hat etwas zugenommen - ja, das Leben in Prag - und verspricht ein Tor. Ich rufe ihm aufmunternd „Hopp, Schwyz“ hinterher, er schaut etwas ratlos, entschuldigt sich dann. Er müsse schnell in die Kabine, sein Trainer wolle noch die neuesten Produkte aus dem IKEA-Katalog präsentieren.
Henrik Larsson in Prag
Plötzlich steht es 1:1, dann könnte es 2:1, 3:1, sogar 4:1 für IKEA stehen. Das alles nach Eck- und Kopfbällen. Ich traue meinen Augen nicht, dabei hat das englische Spiel doch noch bis vor kurzem nur aus Kopfbällen bestanden, die durch lang und blind nach vorne gedroschene Schüsse unterbrochen wurden. Zweimal die Latte und eine Rettung auf der Linie bewahrt England vor einem Viertelfinale gegen Unsrige. Der Angstschweiß läuft meinen englischen Bekannten in Strömen von den Gesichtern.
Dann zeigen die Teetrinker, dass sie es doch nicht verlernt haben, Mittelfeldstar Gerrard rammt eine hohe Flanke ins Tordreieck. England führt, wenn auch völlig unverdient, und im Achtelfinale wartet Ecuador. Ja, da kommt Freude auf, vor allem aber relief! Auch bei den Schweden, denn Larsson macht sein Versprechen war. Diesmal ist es ein Einwurf, der die englische Abwehr ins Chaos und Tal der Tränen versinken lässt. Man trennt sich also schiedlich, friedlich 2:2, beiden Mannschaften ist damit geholfen, so einigt man sich halt zwischen vernünftigen Europäern.
Nun bin ich restlos gebrochen. Das nun in der Aufzeichnung zu sehende Spiel Paraguay – TNT hat keinerlei Bedeutung mehr. Außerdem zeigen sie die beiden Tore Paraguays in einem kurzen Zusammenschnitt. Ich kapituliere. Und gehe nach Hause. Nehme ja das letzte Duell auf Video auf und werde es mir sicherlich an den fußballfreien Tagen nach dem Achtelfinale anschauen.
Ihr deutscher WM-Beobachter in Prag
So, die Lösung der Frage von Tag 10 lautet Kolumbien. Jetzt hätte ich aber noch eine Frage, auf die ich selbst keine Antwort weiß: Welche Staats- und Regierungsform herrscht eigentlich in Paraguay und was wurde aus dem Stroessner-Regime?