Merzig/Prag -Tag 28: Während das Land hier im zweiten christlichen Feiertag hintereinander vor sich hin dämmert, mache ich mich also auf in das Land der Nibelungen. Die Stadt ist wie leergefegt, die Einheimischen sind jetzt alle in ihren Landhütten. Problemlos fahren wir auf die Autobahn und streben jenem merkwürdigen Land entgegen, das ja eigentlich noch immer mein Heimatland ist.
An der Grenze ist es noch ruhig, doch dann trifft mich die WM mit voller Wucht: Schilder auf der Autobahn, die Fair play auf der Straße fordern und damit meinen: Abstand halten! oder Nicht drängeln!
Dann folgen die Schilder, welche die Welt zu Gast bei Freunden willkommen heißen. Und schließlich diejenigen, die auf ein Fußball-Fan-Dorf, das Heimatdorf eines Nationalspielers oder eine sonstige Sehenswürdigkeit hinweisen.
Fahnen auf Autos
Und dann sind da natürlich die Fahnen an den Autos. Wer keine hat, ist wahrscheinlich zu spät gekommen, denn Fahnen sind im Land der Nibelungen ausverkauft. Ich möchte jetzt eigentlich auch eine haben, weiß aber, dass das unmöglich ist. Es sei denn, ich würde einfach eine von einem herumstehenden Auto abmontieren. Nur, mir sind ja meine ehemaligen Landsleute bekannt, das wird bestimmt so form- und problemlos bestraft wie im Wilden Westen der Pferdediebstahl.
Ich bin tatsächlich neidisch. Eigentlich finde ich die Fahne ja gut, ich mag die Farbenkombination. Die sieht man ja nicht so oft. Ich bin nämlich dieser ewigen phantasielosen Kombination von Blau, Rot, Weiß überdrüssig. Das hat doch jeder, man weiß nicht mal mehr, was zu welchem Land gehört, wenn da nicht noch irgendein Wappen drin wäre. Aber Schwarz, Rot, Gold, das sticht ins Auge, diese Kombination hat Dynamik, große Farb- und Helligkeitskontraste. Nein, diese Fahne hat nicht jeder. Nein, denn sie ist ja ausverkauft. Selbst die umgenähten belgischen Fahnen sind ausgegangen.
Rot-Weiß-Grün?
Irgendwann verlasse ich die Autobahn und fahre über die Landstraße in eine süddeutsche Kleinstadt im Niemandsland irgendwo zwischen der Oberpfalz und dem Saarland. Mir begegnet das erste Auto mit italienischer Fahne - ich bin geschockt! Und denke nur, raus, raus, raus. Fahren Sie doch bitte zurück über die Alpen in ihr Heimatland, aber geben Sie bitte vorher unser Nummernschild ab! Habe ja beschlossen, mindestens einen Monat lang aus Protest keine Pizza mehr zu essen.
In jener Kleinstadt wohnt eine sehr nahe Verwandte von mir, die ich eigentlich seit frühester Kindheit recht gut kenne. Sie ist bisher nicht als Fußballfan auffällig geworden. Doch von selbst beginnt sie zu erzählen, wie sehr sie im Viertelfinale gegen Argentinien mitgelitten hat. Und wie sehr sie sich gefreut hat, dass die arroganten Brasilianer ausgeschieden sind. Es scheint also tatsächlich in diesem Land so etwas wie Fußballfieber um sich gegriffen zu haben. Und ein kollektives Bewusstsein, wer sympathisch und wer unsympathisch ist.
Gehe dann später in die pittoreske Altstadt, um mich ein wenig umzuschauen. Tatsächlich, Beflaggung allerorten, so ist´s richtig. Leider entdecke ich dann auch die grün-weiß-rote. Habe ja eigentlich nichts gegen diese Farbkombination, finde sie aber nicht so richtig originell. Da hat ja nur jemand das ewige Blau gegen das langweilige Grün ausgetauscht.
Warum nicht ein Eis?
Nun gut, es ist schwül, meine Lebensbegleiterin dringt auf mich, ein Eis zu essen. Ich sage ihr, nicht in dieser Pizzeria-Eisdiele, die haben die falsche Fahne aufgezogen. Also gehen wir gegenüber. Ich bestelle nichtsahnend mein Eis und beginne bereits daran zu schlecken, da bemerke ich den Namen: Gelateria Venezia! Am liebsten würde ich es jetzt zurückgeben und mir um die Ecke eine Currywurst holen. Doch zu spät, außerdem schmeckt es halt ganz gut. Und ich hatte bloß von Pizza gesprochen.
Erkläre zumindest meiner Lebensbegleiterin lang und breit, dass ich die Farbkombination von rot, grün und weiß nicht besonders interessant finde. Modisch sowieso, das steht völlig außerhalb jeglicher Debatte. Und muss mich dabei ertappen lassen, dass ich mich vollkommen lächerlich mache. Denn ich trage eine knielange Hose der Marke Watson`s, kombiniert mit einem legeren Jan Paulsen Leinenhemd und eine labelfreie Basketballmütze, die mich vor der Sonne schützen soll. Dazu hellbraune Schuhe von CAT, original aus London, und Sneaker-Socken, deren Marke ich nicht mehr erkennen kann. Ach ja, die Farben, die habe ich noch nicht genannt. Schwarz-Rot-Gold ist es nicht, auch nicht Blau-Weiß-Rot. Meine Lebensbegleiterin betrachtet mich und schüttelt nur den Kopf. Das ist mal wieder typisch!, denkt sie wahrscheinlich. Männer sind halt furchtbar inkonsequent. Und strebt der nächsten Pizzeria zu.
Ihr deutscher WM-Beobachter in Prag in Merzig