Unerbittlich rollt der WM-Zug weiter. Während ich am ersten Tag nach der Niederlage nur pietätvolle Kunden getroffen habe, werde ich am zweiten Tag schon mehrfach darauf angesprochen. Was war da los? Ich fühle mich wie ein Pressesprecher, der genau darauf achten muss, was er als Deutscher im Ausland sagt. Einem gesunden Patriotismus ohne Chauvinismus zeigen, also das Land bzw. die Mannschaft jetzt nicht in Grund und Boden verdammen. Auch nicht den Fehler begehen, einzelne als Sündenbock herauszupicken, denn die gab es in dem Sinne nicht. Meine Strategie richtet sich an dem Offensichtlichen aus: Die Spieler hatten keine Einstellung zum Spiel und zum Gegner. Wenn man so in ein Spiel hineingeht, wird es während des Spiels schwer, das zu korrigieren, denn der Gegner ist dann aufgebaut und ihm wachsen Flügel.
Der mündige Fan ist gefordert
Mit solchen Sätzen werde ich meine Pflicht, mich als enttäuschter Fan mit Verstand zu präsentieren, los. Ich unterhalte mich mit einem anderen Kunden über mangelnden Europa-Patriotismus. So etwas müsse in der Schule gelehrt werden, fordert er. Ich weiß, er hat eine elfjährige Tochter und macht sich viele Gedanken, welche Mittelschule für sie jetzt am besten ist. In den USA, so seine Erfahrung, denn dort hat er ein paar Jahre gearbeitet, hören die Kinder jeden Tag in der Schule, wie großartig das eigene Land ist und ihnen werde beigebracht, stolz darauf zu sein. Das ist ein interessanter Gedankenanstoß, finde ich. In Europa hören die Kinder immer nur von den Politikern, wie schlecht die EU ist. Brüssel, Straßburg und Luxemburg dienen als ein Büttel, auf den nationale Politiker gerne eindreschen, um von der eigenen Verantwortung und dem eigenen Versagen abzulenken. Beim Thema Ablenken kommen wir unweigerlich auf das seltsame Happening von Präsident Zeman am Eröffnungstag der WM. Die nachdenklicheren Kreise spekulieren darüber, wovon Zeman eigentlich ablenken wollte, und kommen auf das Atomkraftwerk Dukovany, dessen Ausbau wohl die Russen betreiben werden.
Stört die WM die Produktivität?
Beim Verlassen des letzten Kunden entdecke ich auf einem Fernsehbildschirm den Zwischenstand des ersten Spiels, Japan liegt mit 1:0 gegen Kolumbien in Führung. Später sehe ich in der Zusammenfassung, dass sich die Südamerikaner bereits in der dritten Minute selbst schwächen. Ein Verteidiger verhindert mit der Hand ein klares Tor der Ostasiaten. Die Folge sind eine rote Karte und ein Elfmeter, den der Dortmunder Kagawa zwar schlecht schießt, aber dennoch verwandelt. Alles in allem nutzen die Japaner die Überzahl, um das Spiel gegen die favorisierten Kolumbianer ausgeglichen zu gestalten und gewinnen mit 2:1.
Zu Hause wartet neben Frau und Kind auch die Deadline um 17 Uhr, die ich dank hohem Einsatz (früheres Angreifen, keine unnötigen Ballverluste, kein Reklamieren) locker einhalte. Um 17 Uhr schalte ich zum Spiel der Polen um, während meine Lebensgefährtin MM den ganzen Raum der Küche bearbeitet und mich auffordert, den vorgeschriebenen Abstand von 9,15 Metern einzuhalten.
Ich habe nur noch eine kritische Situation zu überstehen, die sms eines Kunden, der ahnt, dass ich den verschobenen Termin vergessen habe, meine Entschuldigung aber mit Wohlwollen annimmt. Dann gehöre ich an diesem Abend ganz dem Fußball und später natürlich der Tochter und MM, die gegen Ende des Spiels zum angerichteten Essen ruft. Das darf ich nicht verschieben, denn diese Ereignisse eines gemeinsamen Essens sind wahrlich selten und wertvoll. Auch wenn Polen noch der Anschlusstreffer gelingt, zu dem ich zurück an den Computer sprinte. Doch dann ist das Spiel aus, unser östlicher Nachbar hat sich nach eineinhalb Eigentoren selbst geschlagen. Senegal beginnt mit einem Sieg und diese Gruppe dürfte noch echt interessant werden. Erst nach mehrmaligem Hinweis und dem Studium anderer Kameraeinstellungen entdecke ich den Skandal des zweiten Tores. Der Senegalese sprintet von der Seitenlinie in einen weiten Rückpass der Polen und spritzt zwischen Torwart und letztem Verteidiger in den Ball, den er anschließend locker über die Linie bringt. In der ersten Kameraeinstellung ist davon nichts zu sehen, denn dort kommt der afrikanische Spieler einfach nur aus dem Off und der Zuschauer fragt sich, warum die Polen so dämlich sind, auf den nicht zu achten. Die Erklärung ist einfach, sie glauben daran, dass ein Spieler, der außerhalb des Spielfelds behandelt wird, erst mal ein Zeichen des Schiedsrichters abwarten muss, bis er den Platz wieder betreten und ins Spiel eingreifen darf, das auch – und jetzt wird es wichtig – der gegnerischen Mannschaft gut sichtbar sein sollte. Tja, Pech gehabt, Spiel verloren, Entrüstung umsonst. Meine Tochter interessiert das alles eher wenig, sie futtert mit Lust und Laune, was MM gekocht hat, und Papa würde gerne einen Schnaps trinken, weil er sich den Bauch so voll geschlagen hat. Natürlich nur, um MM zu zeigen, wie gut es ihm schmeckt, versteht sich. Doch Hochprozentiges hat der Haushalt nicht anzubieten und so bleibt es bei dem simplen Wunsch.
Schaffen wir das?
Damit haben sich alle Mannschaften präsentiert und die einzige Mannschaft, die wirklich keine Einstellung zum Turnier gefunden hat, ist Deutschland. Muss man so sagen. Trotz Fußballpatriotismus. Es gibt aber noch zwei Spiele, um das Umzubiegen oder aber sich die Verdammnis richtig zu verdienen. In der Presse steht übrigens, dass die Mannschaft viel miteinander gesprochen hat. Deutliche Worte sollen auch gefallen sein. Ein weiter-so darf es nicht geben, allerdings werden größere personelle Konsequenzen ausgeschlossen. Steht die Frage im Raum: Schaffen wir das?
Abends geht es weiter mit Russland. Der Gastgeber besiegt souverän Ägypten mit 3:1, obwohl Wunderstürmer Salah diesmal bei den Pharaonen mittun darf. Meine Tochter nutzt den Papa als Klettergerät, das drohende Abstürze auffangen kann. Im Spiel zeigt sich eine wesentliche Konsequenz des Videoschiedsrichters. Gepfiffene Fouls gegen den Gastgeber können nicht mehr einfach außerhalb des Strafraums verlegt werden. Meine Tochter zeigt noch vor Abpfiff Ermüdungserscheinungen und ich wechsele sie aus. Auf der Ersatzbank – Papas Bett – schläft sie friedlich ein und in Russland kann die familienfreundliche Weltmeisterschaft weitergehen. Den ersten Halt gibt es erst nach der Gruppenphase.