Die letzten vier Mannschaften präsentieren sich bei der Merkwürdig-EM 2020 im Jahr 2021, der amtierende Weltmeister, dessen Vorgänger, der amtierende Europameister und dessen Finalgegner, der Rekord-Eurpameister, die einzige europäische Nation, die eine WM in Südamerika gewinnen konnte, der erste Gewinner der europäischen Nationenliga, insgesamt sieben Weltmeistertitel, zusätzlich sechs Vize-Weltmeisterschaften, sechs EM-Titel, zusätzlich noch fünf EM-Finalteilnahmen und diejenigen Nachfahren der ungarischen Wunderelf, die endlich Hoffnung auf die Anknüpfung an jene goldene Generation geben. Das alles in einer Gruppe, das ist schon kolossal. (Und die genannten Zahlen sind nur Schätzwerte, der Verdacht einer Dunkelziffer oder Verschleierung lässt sich nicht endgültig ausschließen.)
Um es einfach zu sagen, um 18h spielen Portugal und Ungarn in Budapest, um 21h Frankreich und Deutschland in Ungarn.
Super-spreader event in Budapest
Was ist der Unterschied zwischen beiden Austragungsorten? Budapest ist etwas größer, eine Landeshauptstadt und beherbergt eine Staatsregierung, die auf der Klaviatur des gesunden Patriotismus gerne auch schrille Töne anschlägt, die den europäischen Nachbarn als Katzenmusik in den Ohren klingt. Das Programm heißt illiberale Demokratie, wohinter sich nichts anderes als der Versuch des Umsetzens von Allmachtsfantasien verbirgt, wovon seit Jahren dieselben Seilschaften profitieren. München hingegen ist nur die Hauptstadt eines Bundeslandes, das gerne mit Autonomiegedanken kokettiert und seine schrillen Töne nach Berlin richtet, dabei aber in der praktischen Umsetzung eines Ein-Parteien-Staates in einem demokratischen Mantel weiter ist als Budapest. München zieht fähige Leute an, während Budapest seine fähigen Leute ins Ausland drängt. Zwar ist München kleiner, dafür die von dort regierte administrative Einheit größer – und auch prosperierender.
Genug von der Politisiererei, die populistische Regierung in Budapest öffnet zum EM-Spiel die Schoten und flutet das Stadion mit 60.000 Zuschauer, Pandemie hin oder her. Währenddessen verlieren sich in München etwa 10.000 in dem weiten Rund der Arena, deren Namenspatron eine Versicherung ist. Mal sehen, ob den Ungarn die Rechnung für das potentielle „mega-spreader event“, wie man solche Veranstaltungen in Zeiten von COVID-19 nennt, präsentiert wird. Sportlich ging das Kalkül mehr als 80 Minuten auf, die Leipziger Achse Gulacsi und Orban Willi halten mit Glück und Geschick ihren Kasten sauber. Der eingewechselte Schön schießt ein Tor, das ganze Stadion umarmt sich, doch der Video-Assi dämpft umgehend die Freude, leider knapp im Abseits. Die Einwechslung des Spielers Siger bei Ungarn scheint Programm und ich denke, der Orban Willi würde sich auch gut in der deutsche Abwehr machen, doch leider hat er für seinen Namensvetter Orban Viktor optiert und steht dem scheidenden Jogi Löw nicht mehr zur Verfügung.
Tragisch wie 1954
Doch wie 1954 im Endspiel von Bern sollte das Verhängnis auch in diesem Spiel noch seinen Lauf nehmen und im Sport ein weiteres Kapitel im ungarischen Geschichtsmythos von 1000 Jahren Niederlagen schreiben. Ein abgefälschter – nicht gefälschter – Pass bringt einem portugiesischen Stürmer die notwendige Beinfreiheit, der wenig fulminante Abschluss wird wieder abgefälscht und Leipzigs Wundertorwart kann dem Ball nur noch verduzt hinterherschauen, der von Orban Willis Ferse ins linke (vom Torwart aus gesehen) Eck rollt. Wie 1954, als aus heiterm Himmel der Regen kam, genau so, nur eben doppelt abgefälscht.
Kurz darauf herrscht Klarheit, Orban Willi blockt den eingewechselten da Silva von der Frankfurter Eintracht regelwidrig im Strafraum, der erste verwandelte Strafstoß des Turniers eröffnet Cristiano Ronaldo die Chance zu seinem zehnten Tor bei seiner fünften Turnierteilnahme, in der Nachspielzeit fügt er noch Nummer elf hinzu und die Freude in Budapest ist doch deutlich getrübt.
„Papa, musst du Basketball kucken?“
Meine Tochter freut sich, denn ich überlasse ihr wieder den Computer für ihr Kinderlernprogramm auf youtube. „Gehst du jetzt Basketball kucken?“, fragt sie. „Basketball? Nein, Schatz, Papa kuckt keinen Basketball, Papa kuckt Fußball.“ Woher hat sie das bloß, ich habe in meinem Leben vielleicht zwei Basketballspiele gesehen.Ich muss diese Kinderlernprogramme doch mal genauer unter die Lupe nehmen, meine Tochter lernt damit gerade unkontrolliert Englisch, um ihr Sprachenrepertoire um eine zu erweitern.
Ich begebe mich anschließend nach Pankrac zum Gefängnis, gehe dabei nicht über Los und treffe mich mit Niels. Unglaublich das letzte Mal haben wir uns vor der Pandemie im ausgeschossenen Auge unter dem Denkmal des Hussitenheerführers Jan von Trocnov getroffen, der dem gesamten Stadtteil seinen Zweitnamen verlieh: Žižka bzw. Žižkov. Das war ein Jahr nach der WM 2018, die es aber trotzdem noch zu diskutieren galt. Dabei natürlich vor allem die Trainerposition.
Eine 26 ist keine 25
Gleich zu Beginn sorgt ein kleines Missgeschick für eine verlängerte Anreise. Ich nehme die Straßenbahn 25 zur nächsten U-Bahnstation, denke ich und stelle erstaunt fest, als diese an der entscheidenden Stelle abbiegt, dass ich in der 26 sitze. Genau das ist mir schon einmal passiert, obwohl ich mir sicher bin, 25 gesehen zu haben. Wir tuckern über die Moldau und ich denke darüber nach, ob es an der Display-Ästhetik der digitalen Anzeige aus den 1980er Jahren liegen kann. So mache ich einen gemütlichen Straßenbahnausflug durch das Zentrum Richtung Stadtteil Nusle und denke an das Jahr zurück, das ich dort verbracht habe, 1998, das war aber schon nach der WM, die Frankreich gegen Brasilien nach zwei Kopfstößen von Zinedine Zidane gewann. Sein dritter Kopfstoß in einem WM-Finale erfolgte acht Jahre später, galt aber nicht dem Ball. Damals gab es noch keinen Video-Assi, sondern nur einen vierten Unparteiischen, der auf erhöhter Position im Stadion sitzend nicht auf Filmmaterial zugreifen durfte. Zumindest offiziell nicht. Die Zeiten haben sich geändert, auch der Stadtteil Nusle, er sieht jetzt bedeutend schöner aus.
Umziehen ist schlimmer als ausbrennen
Neben dem Gefängnis treffe ich Niels in einem kleinen Biergarten, viel Zeit, den zu genießen, bleibt uns leider nicht, der Anpfiff naht und damit der Umzug ins Lokal. Ich erzähle von meinem Tag und meinem Kampf mit der Bohrmaschine, der Wand und einem Hängeschrank, den ich nach einiger Mühe in der engen Toilette angebracht habe. Dort konnte ich nur alleine arbeiten, nach einer Stunde war das Werk vollbracht und ich einen Schritt weiter, die neue Wohnung wohnlich zu gestalten.
Wir schauen uns die Manschaften bei der Nationalhymne an, ich erzähle von dem administrativen Vormittag. Nach all den Mühen und vergeblichen Anrufen mit meinem ehemaligen Internet-Anbieter Vodafone, dem Warten auf einen Termin des Technikers und dem schlechten Signal bin ich dann doch überrascht, wie einfach das Unternehmen es macht, seinen Vertrag zu kündigen und das Modem zurückzugeben. Keine weitere Befragung nach Gründen, kein Fragebogen über Kundenzufriedenheit, keine Versuche, mich als Kunden zu halten.
Rückkehrer Hummels trifft
Nach drei, vier weiteren administrativen Besuchen lande ich schließlich bei der Fremdenpolizei, um mich umzumelden. Niels erinnert sich ebenfalls mit Schrecken an seine Erfahrung mit jener Behörde. Mitten in unsere Überlegungen schießt Hummels – ausgerechnet Hummels, den Löw eigens zurückgeholt hat, um die Abwehr zu stärken – das 1:0. Doch leider nicht für Deutschland, sondern für Frankreich. Hätte ein Willi Orban in dieser Situation besser ausgesehen? Wäre Hummels überhaupt mitgenommen worden, wenn Orban seinerzeit nicht für Ungarn optiert hätte? Spricht er überhaupt Ungarisch? Fragen über Fragen begleiten uns in die Pause, in der der Wirt das Projektion des Videostreams auf Standbild stellt.
Auf der Ausländerpolizei war ich übrigens überraschend problemlos erfolgreich, kann mich aber ebenfalls an frühere Zeiten erinnern, als der Pflichtbesuch dort noch schlaflose Nächte bereitet hatte. Damals war die Behörde aber noch in dem unwirtlichen Teil von Žižkov angesiedelt, heute ist sie, zumindest die für meinen Stadtteil zuständige Abteilung, über dem Club Delta angesiedelt. „Kennst du den“, frage ich Niels. „Ich war dort einmal auf einem Konzert der Plastic People of the Universe, das war aber schon nach dem Tod von Frontman Mejla Hlavsa.“ „Ich habe dort mal Xavier Baumaxa gesehen, kann mich aber nicht daran erinnern, wie man dort hinkommt.“ „Ja, das ist eine Fahrt weit raus, bis zur Straßenbahnendstation Wilde Scharka und dann noch drei, vier Stationen mit dem Bus, in einer Siedling.“ Auf jeden Fall geht es dort mittlerweile menschlicher zu.
Verlängerte Pause
An der Bar herrscht Betrieb, so dass meine höfliche Bitte, das Fußballspiel wieder einzuschalten, erst mit Verzögerung entgegengenommen werden kann. Als typisch tschechische Reaktion erhalte ich sowohl das Fußballspiel zurück, als auch die Belehrung: „Das müssen sie doch sagen!“ Zu wenig assertiv, zu wenig ty vole, beim nächsten Mal am besten gleich schreien. Wenn wir zu spät wieder anschalten, ist das nicht unsere Schuld, das ist deine Schuld, du musst uns verbal in den Arsch treten, dann geht das, so interpretiere ich das. Wir verpassen einen Pfostenschuss Frankreichs und sehen, wie Gnabry die einzige gute Torchance über den Kasten setzt. Ansonsten läuft das Spiel so, wie seit Jahren bei Löw, die großen Offensivbemühungen stehen im krassen Gegensatz zu der dadurch entfachten Torgefahr. Warum sollte sich daran etwas ändern, auf Löws alte Tage, nur weil er Müller, Hummels und Volland zurückgenommen hat?
Welcher Aufenthaltstitel wofür?
Niels und ich erörtern weiterhin die Fremdenpolizei, Vor- und Nachteile welcher Aufenthaltstitel, das Spiel läuft seinen Gang, erinnert etwas an das Halbfinale 2016. Frankreich schießt noch ein Abseitstor, nach dessen Aberkennung die Kamera kurz auf Käse-Gael schwenkt, der sich auf der Tribüne darüber echauffiert. Dann reden wir über dieses Endzeitgefühl, das Ären, die zu lange Dauern, auslösen. Wir beide sind derselbe Jahrgang und haben die Ära Kohl von ihrem Anfang, der geistig-moralischen Wende, bis zu ihrem Ende, dem absoluten Überdruss an dieser Politik miterlebt. Nun Merkel, nun Löw. Wir kennen das schon, trotz aller Beteuerungen und Kampagnen, Reformen anzugehen und neue Dinge zuzulassen, ändert sich nichts. Also lohnt es sich auch nicht mehr wirklich, auf das deutsche Team einzugehen. Vielmehr lohnt es sich ab sofort aufmerksam zu beobachten, ob Deutschland vor dem letzten Spiel, das ja auch die gesamte Vorrunde abschließt, noch eine Chance auf einen der vier besten Dritten-Plätze besitzt, die zum Einzug ins Achtelfinale ausreichen.
Wer ist Gabirela?
Bald schon nach dem Abpfiff werden wir aus dem Lokal mit Biergarten hinauskomplimentiert und ich nutze die höchst angenehme Sommernacht zu einem ausgiebigen Spaziergang über die Nusle-Brücke, die immer wieder einen schönen Blick über Prag, die höhere Burg und den Hradschin bietet. Zurück in meinem Viertel schaue ich noch kurz in der Nachtbar Barré vorbei und erfahre immerhin soviel über Gabriela, dass sie einen viereinhalbjährigen Sohn hat und nur manchmal hier verkehrt. Aber wie sie aussieht, weiß ich immer noch nicht.