Prag - Es wartet ein harter Fußballtag, der härteste des Turniers, brutto liegen elf Stunden vor mir und ich sage es vorweg, ich habe die vier Spiele an vier verschiedenen Orten gesehen. Das geht nur mit einem Höchstmaß an logistischer Feinabstimmung und entsprechender Ernährungsdisziplin. Griechenland steigt ins Turnier ein, ihm zu Ehren ziehe ich nach vier Jahren wieder mein T-Shirt von der Europameistermannschaft 2004 an. Ich bleibe in Rufweite meiner Wohnung, denn das T-Shirt wandert nach dem Spiel fein säuberlich wieder in den Schrank. Außerdem stelle ich eine Bolognese auf dem Elektroherd auf kleine Flamme, sie stellt eine wichtige Komponente in der Vorbereitung auf das Italien-Spiel dar. Zur Sicherheit gehe ich in Fred’s Bar.
Ein alter Witz neu aufgewärmt
Bereits beim Hinuntersteigen schaue ich irritiert auf die Leinwand, sie ist in grün getaucht, das ja, aber es ist ruhig, zu ruhig, da sind weiße Linien in falscher geometrischer Anordnung. Der Ball ist zu klein, es sind zu wenige Spieler auf dem Feld. Mir entfährt es: Seid ihr verrückt geworden? - Wir schauen halt gerne Tennis, außerdem spielt Štěpánek, lautet die Antwort. Auch wenn ich Tschechisch spreche, denke ich mir, interessiere ich mich dennoch für die Fußball-WM und nicht plötzlich für Tennis, weil so ein Štěpánek irgend so ein Spiel und das noch zwischen Paris und London – turniertechnisch, nicht geographisch – bestreitet.
Deutschland spielte eine schlechte WM, aber dennoch Fußball. Ich war neu in Prag, sprach schlecht tschechisch und ging in irgendeine Kneipe, wo ich in einem Kleinbildfernseher Fußball sehen wollte. Der Barmann erkannte mich und schaltete gleich auf ein anderes Programm um. Ach ja, die alten Sprüche gehen mir im Kopf herum, jönne muss ma könne, heißt es in Köln, oder einer dem anderen sein Teufel.
Bereit, mich vertreiben zu lassen
Der slowakische Koch kommt kurz und bekniet Lexa, seine Wette auf England noch heute, vor dem Spiel abzugeben. Ich habe bereits herzhaft darüber gelacht, als ich ein paar Tage zuvor zum ersten Mal davon hörte. Die Quoten sinken morgen, wenn England heute Abend Italien geschlagen hat, behauptet er fest.
Ich setze gerade an zu sagen, lasst euch nicht stören, ich kann auch woanders hingehen, als der Barmann gemächlich an der Fernbedingung herumhantiert. Als er dann den Sender gefunden hat, dreht eine Horde wild gewordener Kolumbianer ab und vollführt ein interessantes Tänzchen an der Seitenlinie. In der Zeitlupenwiederholung sehe ich: Der Rechtsaußen bricht auf der rechten Flanke durch, er bringt den Ball nach innen, vor dem Fünfmeterraum rangeln drei Spieler um das Spielgerät, das runde Leder gelangt irgendwie zu einem freistehenden Stürmer, der etwa vom Elfmeterpunkt aus der Drehung abzieht, die Kugel fliegt flach Richtung langes Ecke, der Torwart hat sie fest im Blick, da hält ein Verteidiger, etwa an der Fünfmeterlinie postiert, die Hacke dazwischen und gibt der Murmel die entscheidende Richtungsänderung, reflexartig versucht der Torwart noch darauf zu reagieren und hechtet hinterher, doch die Pille küsst bereits das Netz und Griechenland liegt nach etwa fünf Minuten hinten.
Gekas immer noch dabei
Gekas taucht kurz in der Kamera auf, der spielt immer noch mit, gleich zeigen sie dann wohl auch noch Rehagel auf der Trainerbank. Dann kommt sogar Lexa, ich fasse es nicht. Mit Kennermiene stellt er fest, dass die Hellenen nicht mehr so defensiv spielen wie damals, ich mache ihn auf mein T-Shirt aufmerksam. Dann schwelgt er in Erinnerung an das EM-Finale 2000, Wiltord in allerletzter Sekunde zur Verlängerung, in der Trezeguet den Titel durch ein golden goal gegen Italien herausschießt. Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass auch dieses Spiel, 2014, ziemlich ansehnlich ist. Griechenland spielt gar nicht schlecht, verscherzt sich aber die Sympathien des Schiedsrichters durch häufiges Reklamieren und schnelles Fallen. So haben sie keine Chance, im Zweifelsfall einen Elfmeter zu bekommen. Der slowakische Koch kommt kurz und bekniet Lexa, seine Wette auf England noch heute, vor dem Spiel abzugeben. Ich habe bereits herzhaft darüber gelacht, als ich ein paar Tage zuvor zum ersten Mal davon hörte. Die Quoten sinken morgen, wenn England heute Abend Italien geschlagen hat, behauptet er fest. Was für ein Humbug, denke ich nur.
Mate zur Vorbereitung
Lexa ist nicht mehr der Alte, man kann mit ihm kein Fußballspiel mehr zu Ende schauen, deshalb überrede ich ihn auch nicht lange, zur zweiten Halbzeit zu bleiben. Ich bestelle noch eine zweite Club Mate, es wird ein langer Tag, dann wechselt Rudi, ein indonesischer Koch aus einem Thai-Restaurant, Lexa ab. Das Spiel bleibt gut, Griechenland ist bemüht, Kolumbien macht ein Tor nach einem Eckball (Yogi Löw, gehe in dich, es ist legitim, nach einem Eckball ein Tor zu erzielen) und zum Schluss setzen sie noch einen schönen Fernschuss in die Maschen (auch das darf man), ich gehe nach Hause, wechsle gleich das Trikot und widme mich meinem italienischen Abendessen, Gnocchi Bolognese.
La Casa Blu
Costa Rica gegen Uruguay, das kann man nur im Casa Blu schauen, denke ich mir. Auf dem Weg dorthin fallen mir in den Gassen um das Annenkloster die allgegenwärtigen Tags auf, welche die pittoreske Umgebung nicht gerade verschönern. Die Hip Hop-Bewegung ist doch letztenendes ein Rückfall in die Barbarei, insbesondere wenn nicht-mariginalisierte Schichten wie etwa die Mittelschicht-Kinder sie als Chance zur Selbstverortung in einem gesellschaftlich relevanten Diskursraum betrachten und die Aneignung des Unterschichtenhabitus aus seinem Kontext entheben. Bei den Barmherzigen angekommen, werfe ich meinen Theoriemüll aus Kölner Zeiten über Bord und betrete die Kommandobrücke der latinoamerikanischen Kultur in Prag, die altehrwürdige Institution Casa Blu, die so manchen Sturm überstanden hat, die lokale Einführung von Rauchverbot und die Versuche einer Mietenteignung.
Zum Fußballschauen ist der Ort nicht ideal, aber brauchbar. Zu viele Tschechen, was zwangsläufig bedeutet, Desinteressierte. Ich bin mir nicht sicher, ob überhaupt jemand schaut, vielleicht an zwei weiteren Tischen, schätze ich. Das Spiel ist gut, wie ich überhaupt sagen muss, dass ich bisher nur gute Spiele gesehen habe, mittlerweile bereits acht. Der chilenische Hauswein ist brauchbar und ich mache mich mit der Sprache des Turniers vertraut, mit Spanisch. Diego Forlan spielt auch mit, der beste Spieler der WM 2010, dessen Spur sich verloren hat. Nach der WM hatte er mit Verletzungen zu kämpfen, wechselte von Atlético Madrid und seitdem ist er unter meinen Radarschirm getaucht. Es gibt ein paar strittige Szenen im Spiel, ein komisches Handspiel eines Uruguayers im eigenen Strafraum, dem aber wohl ein Schubser eines Costa Ricaners vorausgeht, bei Ecken und Freistoßflanken wird viel geklammert, woraus dann auch ein Elfmeter für Uruguay resultiert. Erst bin ich skeptisch, dann denke ich daran, dass der Deutsche Brych das Spiel leitet, der wird es schon richtig gesehen haben. Szenen vor dem uruguayischen Tor verwirren mich, denn der Torwart trägt eine Trikotfarbe, die sich nicht mit den technischen Parametern der Kamera verträgt, und zieht einen grellen Lichtschleier um sich. Zunächst nehme ich an, einen Araber in seinem weiten Gewand auf der Torlinie gesehen zu haben und halte es für eine Fata Morgana. Der Torwart leuchtet wie ein Außerirdischer in einem Magnetfeld.
Mittelamerikas Fußball unterschätzt
In der zweiten Hälfte dreht Costa Rica das Spiel, nach einer weiten Flanke nahezu von der Eckfahne kommt der Ball zu einem freien Spieler in Elfmeterposition, nach einer weiteren weiten Flanke fällt das Zweieins nach einem schönen Hechtkopfball und das abschließende Dreieins lässt mich darüber nachdenken, wie wenig man in Europa doch über den mittelamerikanischen Fußball weiß. Die beiden großen Länder, die USA und Mexiko, kennt man, den Rest dann kaum noch. Am Ende übertreibt es Costa Rica mit dem Ballhaltespielchen an der Eckfahne, ein bulliger uruguayischer Abwehrspieler haut saftig einen Gegner um, das gibt natürlich die rote Karte, die erste im Turnier, und dem Spiel auch keine Wende mehr. Das Ergebnis ist überraschend, wird von den wenigen Schaulustigen im Casa Blu aber mit Freude aufgenommen. Fußball und ein Viertel Weißwein – warum nicht?
Biergarten im Rieger Park ist tot
Überhaupt, Prag erscheint mir irgendwie WM-feindlich. Letztlich lande ich im ruppigen Stadtteil Žižkov in der Kneipe Nad Viktorkou, wo sich eine Gruppe Engländer eingefunden hat. Ein Engländer steht auf und erklärt in erstaunlich gutem Deutsch: Du bist Deutscher? Dann geh raus.
Auf geht’s zum vermeintlichen Höhepunkt des Spieltags, ich klimme den Hügel hinauf in den Rieger Park. Beim Anstieg höre ich lange nichts, bei der Ankunft sehe ich auch nichts, auf Nachfrage erfahre ich, kein Spätspiel um Mitternacht auf der Leinwand. Das verringert die Chancen ganz erheblich, dass ich mich in diesem Jahr noch einmal an diesem Ort einfinde. Überhaupt, Prag erscheint mir irgendwie WM-feindlich, ich kann mir dabei einfach nicht helfen.
Letztlich lande ich im ruppigen Stadtteil Žižkov in der Kneipe Nad Viktorkou, wo sich eine Gruppe Engländer eingefunden hat. Ein Ire fängt das nervtötende Gespräch an, woher ich denn komme und wen ich unterstütze. Ich tue ihm den Gefallen und erkläre, dass ich eigentlich gegen Italien bin, diesmal aber nicht notwendigerweise. Er verkündet das gleich weiter am Tisch und ein Engländer steht auf und erklärt in erstaunlich gutem Deutsch: Du bist Deutscher? Dann geh raus. Der Barmann ist auch nicht so recht mit mir zufrieden, irgendwie störe ich die Ordnung in seiner Bar, da ich mich nicht irgendwohin hocken will, sondern auch durchaus eine Weile im Stehen schaue. Ich erkenne es gleich, ich bin hier in einer Trinkerhood gelandet, das Bild auf der Leinwand und der Bierpreis sind aber in Ordnung.
Europäischer Fußball im Regenwald
Es ist das berüchtigte Spiel im Regenwald, England verausgabt sich zu Beginn des Matches, gleich zu Anfang einer toller Schuss von Dingsda, die Engländer jubeln am Tisch und müssen erst darauf aufmerksam gemacht werden, dass es nur das Außennetz war. Andrea Pirlo, der Meister des langen Balles, so hat er ja auch Deutschland im Halbfinale der letzten EM erlegt, spielt durch und hat wieder mal so manches Schmankerl auf Lager. Die Tore: Marchisio mit einem schönen Flachschuss aus zwanzig Metern ins Eck, dann Sturridge (oder nicht?) nach unwiderstehlicher Flanke von Rooney, in der zweiten Hälfte Balotelli nach einer tollen Flanke von ich weiß nicht mehr wem. Ich setze mich in der zweiten Hälfte auf einen frei gewordenen Stuhl, die hohe Luftfeuchtigkeit im Regenwald schafft auch mich. Pirlo haut kurz vor Schluss einen Freistoß an die Latte, was für ein Kracher, England hat einfach nicht die Kraft sich aufzubäumen. Ich weiß das, weil der Kommentator das oft genug betont, bis auch ich es glaube.
Kein englisches Pressing
Ich gehe zurück in mein Quartier, schaffe ich das einzige Spiel um drei Uhr morgens? Vor allem aber, wo kann ich es sehen? Ich lande in der Nachtbar in meiner Straße, dort sitzen auch die beiden Iren vom Vortag wieder, die mich darüber informieren, dass man schließen will. Ich halte mich mit solchen Nebensächlichkeiten nicht lange auf und wandere weiter zum Fernseher. Hinter der Bar steht niemand, aber auf dem Bildschirm läuft Elfenbeinküste gegen Japan. Und auch dieses Spiel ist gut und interessant, Honda schießt für mich überraschend die japanische Führung. Die beiden Iren kommen zu mir in den hinteren Teil der Bar. Die Engländer waren gar nicht in der Lage, nach dem Zweieins der Italiener Pressing zu spielen, werde ich belehrt. Ich versuche eine vage Antwort, sie haben in Manaos gespielt, im Regenwald. Und denke gleich an die Szene mit dem wahnsinnigen Klaus Kinski, der dort ein Opernhaus erbauen lässt. Ach, wie hieß der Film noch, Fitzceraldo? In Zeiten von Google wird das Gedächtnis einfach immer schlechter, stelle ich mal wieder fest. Wer diesen Film gesehen hat, weiß, wie schwer es ist, unter solchen Bedingungen Fußball zu spielen. Sang nicht schon Marc E. Smith den Song, British people and hot weather (oder hieß es, British people in hot weather?)? Weil sie kein Bier mehr bekommen, gehen sie, während ich in der angeblich schließenden Bar gemütlich das Spiel zu Ende schaue, vom Barmann nicht weiter belästigt werde. Rudi, der Indonesier, ist auch wieder da, nebenan schläft friedlich ein französischer Käsehändler und ich wundere mich, wie viele Leute in die schließende Bar kommen. Der Fußball bleibt gut, die Elfenbeinküste dreht innerhalb von zwei Minuten das Spiel, Wilfried Bonni, bekannt von seinem langjährigen Engagement bei Sparta Prag macht das erste Tor, Gervinho das zweite. Didier Drogba darf ein bisschen mitspielen und ich falle gegen fünf Uhr müde ins Bett.
Die Tagesstatistik: vier Fußballspiele, vier Schauplätze, elf Stunden, ca. 12 gelaufene Kilometer, 13 Tore, zwei Mate, ein Viertelliter chilenischen Chardonnay, zwei zehngradige Bier, ein zwölfgradiges, eine Portion Gnocchi Bolognese. Die Bilanz stimmt.
Gerd Lemke